Redebeitrag: Wurzen braucht mehr Ruhestörung!

Bürgermeister Jörg Röglin formuliert seinen größten Wunsch für den heutigen Tag in Wurzen so: „Dass die gewählten Abgeordneten respektiert werden und sie in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen können“. Wie üblich: Was für ihn zählt ist „Ruhe“, keine Störung des Betriebs. Dabei wird nicht der Einzug mehrerer Neonazis in den Stadtrat als störend empfunden, sondern diese Antifa-Demo.

Respektiert werden sollen die gewählten Abgeordneten, darunter AFD und Kampfsport-Nazi Brinsa. Die 6 rechten Abgeordneten sollen in Ruhe arbeiten können – also ungestört ihre rassistischen Diskurse im Stadtrat verbreiten. Ungestört ihre Kampagne gegen das Netzwerk für demokratische Kultur umsetzen.

Das NDK im Gegenzug kann aufgrund von rechten Angriffen lange nicht in Ruhe der Arbeit nachgehen – in den letzten Monaten allein kam es zu zwei Angriffen gegen das von ihnen betriebene Café. Selbst gestern bei einer Veranstaltung der taz wurden Besucher*innen beschimpft und bedroht. Schwarze Menschen und People of Color können weder in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen, noch sich sicher fühlen, in den Wurzener Straßen unversehrt zu bleiben.

Für uns ist all das mehr als Grund genug, die Nazis nicht in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen zu lassen. An der rechten Hegemonie in Wurzen und dem Stillschweigen der restlichen Stadtgemeinschaft hat sich nichts geändert, seit wir das letzte Mal da waren.

Wir wollen deshalb den Fokus weiter auf Wurzen richten, Druck aufbauen und Öffentlichkeit schaffen. Aufmerksam machen, den Blick darauf richten, was es hier für rechte Machenschaften gibt.

Die Sitze rechter Parteien im Wurzener Stadtrat sind ein Problem. Sie sind vor allem aber deswegen ein Problem, weil sie nicht alleine stehen, sondern gut eingebunden sind in die Wurzener Stadtgesellschaft und ihre selbsternannte Mitte. Die Nazis im Wurzener Stadtrat wurden gewählt. Sie befinden sich in Wurzen in einer Umgebung, in der sie akzeptiert und unterstützt werden. Ignoranz und das Wegsehen, bis hin zu Anerkennung und Unterstützung macht die Neonazis zu einer solchen Gefahr. Diese Gefahr liegt gerade im Zusammenspiel der verschiedenen Akteur*innen: Der aktiven Neonazis, die teilweise jetzt im Stadtrat sitzen, eines SPD-Bürgermeisters, der die Gefahr herunterspielt und eher den Ruf seiner Stadt gefährdet sieht, einer Lokalpresse, die auch gerne Nazis zu Wort kommen lässt, der sächsischen Justiz, die rechte Gewalttäter*innen nicht verurteilt und dieser sogenannten Mitte, die sich nicht von der rassistischen Gewalt der Neonazis ihr ruhiges Idyll vermiesen lässt, wohl aber von Antifas.

Wurzen konnte so zu einem Rückzugsort für Nazis werden und bietet ihnen mit mehreren Immobilien, Läden und einem Versandhandel wichtige Infrastruktur in der Region. Damit hat sich Wurzen den Titel verdient: „Das braune Herz des Muldentals“.

Bürgermeister Röglin wünscht sich „Ruhe“ für den heutigen Tag. Doch für wen kann es überhaupt „ruhig“ sein in einer Stadt wie Wurzen? Nicht für die, die von den Angriffen der Nazis betroffen sind. Deshalb kommen wir immer wieder her, um diese trügerische Ruhe zu stören, um den Finger in die Wunde zu legen und uns mit denjenigen zu solidarisieren, die von Nazis angegriffen und bedroht werden. Wir bleiben unversöhnlich gegenüber den rassistischen Zuständen, gegenüber der Normalität dieser Stadt, gegenüber den Nazis und denen, die sie machen lassen.

Wurzen braucht mehr Ruhestörung! Antifa in die Offensive!

Wurzen: Redebeitrag Opferberatung RAA Sachsen e.V.

Sommer 2016: Wir sitzen in der Wohnung einer Familie, fast täglich werden sie direkt an der Haustür belästigt. Nachts wird geklingelt, geschrien. Während wir mit der Familie sprechen, fahren in den angrenzenden Straßen Neonazis Patrouille. Der Anlass ist, dass sich Menschen, die in Wurzen leben müssen, gegen Rassismus gewehrt haben. Eine ungeheure Provokation für den rechten Mob. Aber nicht nur der wird rasend. Auch die Lokalpresse empört sich, der Oberbürgermeister spricht von einem „Scherbenhaufen der Integrationsarbeit“.

Eine ähnliche Dynamik entwickelt sich, nach einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen geflüchteten Heranwachsenden und Deutschen in der Innenstadt. Die Folge ist ein Auflauf von mehreren hundert Rassisten auf dem hiesigen Marktplatz, die versuchen die Wohnung der jungen geflüchteten Menschen anzugreifen oder im letzten Jahr als Angreifer verletzt werden, die ein Wohnhaus von geflüchteten attackieren.

Die sächsische Stadt Wurzen ist ein trauriger Hotspot rechter und rassistischer Gewalt. Es ist dabei nicht nur die Quantität an Vorfällen, die selbst in Sachsen beinahe beispiellos ist. Es ist auch die Qualität der Fälle. Die rassistischen Angriffe sind in Wurzen besonders enthemmt und richten sich oft auf die Wohnung der Betroffenen oder finden in ihrem direkten Wohnumfeld statt. Der Wunsch der Betroffenen ist dann: weg ziehen.

Besonders ist in Wurzen auch, dass die Taten kaum juristisch aufgearbeitet werden. Einstellungen der Strafverfahren sind die Regel. Das Signal an die Täter und Täterinnen lautet: Ihr habt nichts zu befürchten. Das Signal an die Opfer der Übergriffe: Es interessiert niemanden, dass ihr in Angst leben müsst. Euer Wohl ist weniger Wert als das der deutschen Bürger.

Erschreckend sind hier die alltäglichen Verhältnisse. Es folgt ein großes öffentliches Echo, wenn sich Geflüchtete wehren, während die rechten und rassistischen Übergriffe zur Normalität gehören und teilweise viel Verständnis hervor bringen.

Dies alles ist kein neuer Zustand. Wurzen ist seit den 90ern bundesweit ein Begriff für Neonazistrukturen, die fast ungehindert agieren können. Seitdem konnten sich rechte Gewalttäter hier mühelos organisieren und wirtschaftlich etablieren. Über die Region hinweg ist Wurzen genau dafür bekannt, nur in der Stadt selbst versucht man häufig zu bagatellisieren und die Bedrohung woanders auszumachen. Wie groß war die Sorge und wie laut die Befürchtungen von Entscheidungsträgern und Verantwortungsträgerinnen als Menschen eine Demonstration in Wurzen ankündigten, um sich mit den Betroffenen des rechten Terrors zu solidarisieren.

Solange sich diese Haltung in der Stadt nicht ändert, werden die Zustände hier so bleiben. Die gesellschaftliche Reaktion auf die Taten, hat einen enormen Anteil an dem Opfer-werdungs-Prozess, dies belegen alle Viktimisierungsstudien. Werden die rassistischen Vorfälle verurteilt oder bagatellisiert, werden die Betroffenen unterstützt oder ihnen gar eine Mitschuld unterstellt… dies alles ist wesentlich beteiligt an der Gewaltwirkung. Öffentliche Solidarität und Unterstützungsbereitschaft kann deswegen in seiner positiven psychosozialen Konsequenz gar nicht hoch genug bewertet werden.

Das Neue Forum Wurzen ist ein hetzerischer Zusammenhang in dessen Umfeld Gewalttäter beheimatet sind und im Zusammenhang dessen Veranstaltungen Angriffe stattfinden.

Attackiert werden nicht nur Geflüchtete, besonders zu leiden hat das soziokulturelle Zentrum NDK am Domplatz. Es ist Anlaufstelle für viele Menschen mit Rassismuserfahrungen, es ist eine stabile Größe gegen eine rechte Kultur und für alternative und demokratische Angebote. Seit Jahren ist es immer wieder Zielscheibe für Verleumdungen, Drohungen und tätliche Angriffe.

Wir solidarisieren uns mit dem Netzwerk für demokratische Kultur und dessen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und mit den übrigen Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt in Wurzen!

Redebeitrag gehalten auf der Demonstration #Wurzen2708: Keine Stimme den Faschos. Den rechten Foren den Raum nehmen!

Redebeitrag Eisenach: NSU

Redebeitrag “NSU”

Redebeitrag zum Nationalsozialistischem Untergrund (NSU), 16.03.2019 Eisenach
Bündnis Irgendwo in Deutschland
Die Erfahrungen aus dem NSU-Komplex stellen für uns eine Zäsur im Herangehen an antifaschistische Politik dar. Neben einem Versagen von Politik, Medien, Sicherheitsbehörden und bürgerlicher Zivilgesellschaft war der NSU-Komplex eben auch ein Versagen der Linken. Die größte rassistische Mord- und Terrorserie in der Geschichte der BRD blieb – bis zur Selbstenttarnung des NSU – unbemerkt. Die Stimmen der Betroffenen, die schon während der Mordserie auf das Tatmotiv “Rassismus” hinwiesen, blieben ungehört. Eine Linke, die es mit Antirassismus und Antifaschismus ernst meint, muss sich dieses Versagen offen eingestehen und daraus selbstkritische Schlüsse ziehen.
Aber in welchem Kontext steht der NSU dazu, dass wir heute in Eisenach auf die Straße gehen? Man könnte über die Südthüringer Naziszene der 90er Jahre sprechen, in welcher das spätere NSU-Kerntrio Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt sowie viele weitere Mitglieder des Netzwerkes politisch sozialisiert wurden. Oder man könnte diskutieren, ob Menschen in Stresssituation – wie etwa nach einem Banküberfall – an Orte flüchten, an denen sie sich sicher fühlen und wo sie auf Unterstützung hoffen können. Man könnte auch ein brennendes Wohnmobil sowie die miserable Arbeit der Sicherheitsbehörden bei der Spurensicherung thematiseren. Aber statt uns an den konkreten Bezügen des NSUs nach Eisenach abzuarbeiten, erscheint es uns sinnvoller den zentralen Imperativ stark zu machen, den die selbstkritische Linke aus dem NSU gezogen haben sollte und der unter anderem einen Grund darstellt, Eisenach zum Ziel einer unversöhnlichen Intervention zu erklären:
Nie wieder soll rechter Terror Menschen schädigen. Um dies zu verhindern gilt es bewaffnete und gewalttätige rechte Strukturen sowie ihr Unterstützer*innenfeld anzugreifen.
Ganz konkret folgt aus diesem Imperativ für uns Folgendes:

  1. Nazis dürfen sich nicht als legitime Verstrecker*innen des vermeintlichen oder tatsächlichen Volkswillens fühlen. So gilt es, auf der einen Seite diskursiv in öffentliche Debatten zu intervenieren, um keine rechte Diskursverschiebung oder gar eine Diskurshoheit zuzulassen. Auf der anderen Seite kann nicht zugelassen werden, dass das tatsächliche Vollstrecken eines rechten Programmes ohne Konsequenzen bleibt. Wir wissen, dass wir uns hierbei nicht auf den Staat und seine Organe verlassen können. Wenn Nazis ihr rassistisches Programm ausleben wollen, darf die einzige Antwort militanter Antifaschismus sein.
  2. Dies zielt auch auf ein grundlegendes Verständnis des Staates, bzw. staatlichen Insititutionen ab: solcherlei Institutionen sind keine Partnerinnen im Kampf gegen die extreme Rechte. Im besten Falle ignorieren sie das Problem so lange, bis es nicht mehr zu ignorieren ist. Im schlimmsten Falle führen sie selbst ein rassistisches Programm aus und drangsalieren Betroffene und engagierte Antifaschist*innen. Eine Auseinandersetzung mit extrem rechten Ideologien in einer Gesellschaft ist aber nur dann möglich, wenn deren Vorhandensein erkannt und eingestanden wird. Oder plakativer gesprochen: Ein Problem kann nur gelöst werden, wenn überhaupt ein Problembewusstsein besteht.
    In der BRD würde dies bedeuten, nazistische Kontinuitäten einzugestehen und zu reflektieren, wie diese den Staatsaufbau und den deutschen Nationalismus geprägt haben. Konsequenter Antifaschismus und Antirassismus muss daher immer antinational und gegen den Staat gerichtet sein und darf sich nicht für Imagepflege vor den Karren der Nation, des Staates oder der Stadt spannen lassen.
  3. Auch das Verhältnis zwischen Nazis und “ganz normalen” Bürger*innen gilt es zu reflektieren. Es wäre zu einfach, Rassismus zum gezielt eingesetzten Herrschaftsinstrument zu erklären. Er und die daraus resultierende Ausgrenzung von all jenen, die als nicht deutsch wargenommen werden war und ist Teil der gesellschaftlichen Zustände in Deutschland. Ein Verständnis dieses tief verwurzelten Rassismus in der deutschen Gesellschaft ist wiederum nicht ohne den Blick auf die nationalsozialistischen Kontinuitäten in der deutschen Geschichte möglich. In einer ressentiementgeladenen Dynamik zwischen einfacher Bevölkerung, gesellschaftlichen Funktionseliten und Nazis kulminiert der Diskurs immer wieder in offen zur schau gestelltem Rassismus. Einen Ausdruck findet dies etwa auch immer in der deutschen Auslegung des Liberalismus mit “Rechten reden zu müssen”. Als seien offener Rassismus und Menschenverachtung eine diskutable Position. Die Erfolge der AfD und der Rechtsruck im Parteienspektrum verweisen eher darauf, dass Rassimus aber als realer ideologischer Bezugspunkt, statt als ein kritikables Objekt betrachtet wird.
    Solch ein Klima führt dazu, dass diejenigen, die den Dissenz gegenüber menschenfeindlichen Ideologien offen aussprechen oder auf die Straße trägt, um die Friedhofsruhe zu durchbrechen zu Nestbeschmutzer*in erklärt werden. Um die Friedhofsruhe zu vertreiben, reichen aber ein, zwei kraftvolle Demonstrationen nicht aus. Es geht darum dauerhaft gesellschaftliche Gegenwehr, gegen die Zumutungen einer rassistisch organisierten Gesellschaft zu entwickeln – und dies vor allem auch abseits von großen Städten.
  4. All dies führt dazu, dass die Stimme derjenigen, die unter Institutioneller Rassismus, gesellschaftlich tief verankerte menschenfeindliche Ideologien sowie die aggressive Leugnung von deren Vorhandensein zu leiden haben, ungehört bleibt. Dass dieses Wissen über Rassismus unter (Post-)Migrant*innen verbreiteter ist als in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, zeigte sich schon während der NSU noch mordete: 2006, als in Kassel und Dortmund tausende türkische und kurdische (Post-)Migrant*innen für die Aufklärung der Morde an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat und ein Ende der Mordserie demonstrierten, war die Frage nach einem rassistischen Tathintergrund allgegenwärtig. Adile Şimşeks Appel “Ermittelt gegen Nazis!” wurde beharrlich ignoriert. Bewohner*innen der Keupstraße in Köln, die nach dem Nagelbombenanschlag am 9. Juni 2004 gegenüber den Ermittlungsbehörden geäußert hatten, dass dies doch nur Neonazis gewesen sein könnten, wurden sogar mit Drohungen zum Schweigen gebracht. Es liegt an uns als linke Bewegung, diese Stimmen zu hören und zu verstärken.

München: Redebeitrag Bündnis "Irgendwo in Deutschland"

Liebe Freund*innen der Aufklärung des NSU-Komplexes,
das Urteil im NSU-Prozess wurde gesprochen, der Komplex NSU jedoch ist unaufgelöst. Die versprochene lückenlose Aufklärung ist  ausgeblieben. Zahlreiche Fragen blieben unbeantwortet, zahllose sind dazugekommen.
Die Hoffnungen der Betroffenen des NSU-Terrors wurden mit Füßen getreten. Sie erfuhren nicht,  warum ihre Angehörigen ermordet und von wem die Täter*innen vor Ort unterstützt wurden. Sie erfuhren nicht, was es mit den Verstrickungen von Polizei oder Verfassungsschutz in den NSUKomplex auf sich hatte.
Sie erfuhren weder eine Anerkennung des institutionellen Rassismus, der sie nach den Taten wie eine „Bombe nach der Bombe“ traf, noch wurde sich für die falschen Verdächtigungen, die sie und ihr Umfeld zu Täter*innen machte, entschuldigt.
Stattdessen plädierte die Bundesanwaltschaft bis zuletzt für die längst widerlegte Theorie des isolierten Trios. Obwohl die Nebenklage und ihre Anwält*innen couragiert Aufklärung gefordert und aktiv zu dieser beigetragen haben, wurde  nicht von der Trio-These abgewichen. Die Suche  nach Antworten auf die offenen Fragen rund um die Planung und Durchführung der Taten, deren regionale Unterstützung und die Verstrickung staatlicher Organe wurden sabotiert.
Wir sind deshalb heute am Tag der  Urteilsverkündung in München, aber auch in  anderen Städten wie Berlin, Hamburg, Leipzig und Rostock auf die Straße gegangen, um  klarzustellen: es darf und wird keinen  Schlussstrich in der Auseinandersetzung mit dem  NSU-Komplex geben!
Wir fordern die lückenlose Aufklärung der  rassistischen Bombenanschläge in Nürnberg und  Köln, in der Gaststätte Sonnenschein, in der  Probsteigasse und auf die Keupstraße, genauso  wie die lückenlose Aufklärung der neun  rassistischen Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç,  Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros  Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat sowie des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter.
Die Bedingungen, die die Mord- und Anschlagserie des NSU möglich gemacht haben,  bestehen fort: Sowohl militante Neonazistrukturen, die mit staatlicher Unterstützung rechnen können, als auch der  gesellschaftliche Rassismus, der sich durch den gesamten NSU-Komplex zieht.
Rassismus äußerte sich nach der sogenannten Wiedervereinigung in Pogromen und Anschlägen,führte zur faktischen Abschaffung des Asylrechts und trug zur Politisierung des NSU bei. Rassismus führte dazu, dass bei den Ermittlungen der rassistische Tathintergrund ignoriert wurde
und Sonderkommissionen mit so bezeichnenden Namen wie „Bosporus“ und „Halbmond“ ermittelten.Rassismus verortete die Täter*innen  in Fallanalysen als dem „deutschen Kulturkreis“  fernstehend und kriminalisierte die Opfer wie die Angehörigen.
Rassismus verleitete die Presse dazu, von  „düsteren Parallelwelten“ zu fabulieren und die Mordserie mit dem bekannten Unwort zu betiteln. Rassismus ließ auch uns als antifaschistische und  antirassistische Linke die Stimmen der Betroffenen überhören, als diese die Täter benannten und unter dem Motto „Kein 10.  Opfer!“ schon fünf Jahre vor der Selbstenttarnung  auf die Straße gingen.
Was wurde aus all dem gelernt? Welche Konsequenzen wurden gezogen? Der Verfassungsschutz, der nachweislich  Neonazistrukturen aufgebaut und vernetzt hatte, der Verfassungsschutz, dessen Mitarbeiter  Andreas Temme nachweislich bei der Ermordung  von Halit Yozgat am Tatort gewesen ist und der  erwiesenermaßen von einer Gruppe namens NSU wusste, der Verfassungsschutz, der nach der  Selbstenttarnung des NSU Akten vernichten ließ und sich gegen jegliche Aufklärung, sei es in den  parlamentarischen Untersuchungsausschüssen  oder im Prozess vor dem Oberlandesgericht,  stellte, dieser Verfassungsschutz steht heute gefestigter denn je, seine Befugnisse wurden  erweitert.
Auch der Rassismus in den Institutionen existiert  ungehindert fort, sei es durch rassistische Kontrollen in Zügen, an Bahnhöfen oder sonst wo  im öffentlichen Raum, oder aber durch den Ausschluss von Rassismus als Tatmotiv. Nach wie vor wird Rassismus häufig als Tatmotiv weder  benannt noch überhaupt in Erwägung gezogen. Das lässt sich am Amoklauf von David S. am  Münchener OEZ erkennen, am Mordversuch an  einem Geflüchteten in Torgau 2017 oder in Berlin- Lichtenberg, als ein Supermarktleiter einen  Menschen moldawischer Herkunft im September  2016 totprügelte. Dazu das Schweigen der Berliner  Polizei zu den Morden an Luke Holland  und Burak Bektaş.
Die Liste der Beispiele könnte noch um zahlreiche  weitere ergänzt werden. Selbiges muss für den gesellschaftlichen Rassismus konstatiert werden,  der die Grundlage für den eliminatorischen  Rassismus bildete und bildet. Der NSU war nicht  die erste Neonazi-Terrororganisation und auch  nicht die letzte. Das zeigen Prozesse gegen rechtsradikale Organisationen wie die „Oldschool  Society“ oder die „Gruppe Freital“, aber auch die immer häufiger werdenden Meldungen über  Waffenfunde in der Neonaziszene.
Die Zahl rassistischer Anschläge und Übergriffe ist in den letzten Jahren rasant angestiegen. Die Akteur*innen, die sich an Kundgebungen und Angriffen beteiligen, gehen weit über die Neonaziszene hinaus. Dazu kommen zahllose Personen, die offen oder insgeheim diese Taten gutheißen, und der Erfolg von Bewegungen und Parteien wie Pegida und AfD.Während Medien und  Politiker*innen bis in die Linkspartei hinein die Grenze des Sagbaren durch immer neue rassistische Ausfälle weiter verschieben und vermeintlich „linke“ Politiker*innen die Nation  als positiven Referenzrahmen für sich entdecken,  agieren die politischen Entscheidungsträger*innen ähnlich wie in den  1990ern:
Nationalistische Rhetorik, Abbau des Asylrechts, Verschärfung des repressiven Lagersystems, Abschiebungen. Diese Zustände schaffen damals  wie heute ein Klima, in dem sich Neonazis als  „Vollstrecker des Volkswillens“ zu Gewalt bis hin zu Morden legitimiert sehen. Diese Zustände waren es, in denen der NSU sich sozialisiert hat. Diesen Zuständen gilt es deshalb ebenso  unversöhnlich entgegenzutreten wie den Neonazis, die sie auf die Spitze treiben.
Rassistische Gewalt gegen Geflüchtete und  Migrant*innen darf nicht unbeantwortet bleiben, der Rassismus in Behörden und Gesellschaft nicht unkommentiert.
Wir fordern unmissverständlich: Kein  Schlussstrich – den NSU-Komplex aufklären und auflösen!
Wir fordern die Berücksichtigung der Perspektiven  der Angehörigen und Überlebenden  bei der Aufklärung und beim Gedenken an die  Opfer, die Umbenennung der Holländischen  Straße in Kassel in Halit-Straße sowie die  Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission.
Wir fordern die Auflösung der Verfassungsschutzbehörden und die Abschaffung des V-Personen-Systems!
Unsere Solidarität gilt den Opfern der rassistischen Mordserie, den Überlebenden der Anschläge und allen Menschen, die von rechtem Terror und Rassismus bedroht und betroffen sind.

Berlin: Deutsche Prozesse – Café Morgenland

Redebeitrag der Berliner Demonstration am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess

Deutsche Prozesse

Zur Erinnerung: „Die NSU-Morde sind die Fortsetzung der Pogrome der 90er Jahre mit andere Mitteln.“
Das juristische Ende des NSU-Prozesses markiert ein – in allen seinen Bestandsteilen- erfolgreich durchgeführtes deutsches Projekt: denn auch sein erster Teil, der Exekutions-Prozess wurde mit 100% Erfolgsquote durchgeführt. Keiner der Angegriffenen hat es überlebt.
Dieser Erfolg lässt sich ohne Mühe und ohne Überraschung auf allseits bekannte und achtsam kultivierte deutsche Kompetenzen zurückführen. Eine dieser Kompetenzen war und ist der „Zusammenhalt“ aller direkt oder indirekt Beteiligten – seien es mordlustige Jugendliche und die verrottete Verwandtschaft, die sie hervorgebracht und erzogen hat, seien es verständnisvolle Soziologen und Betreuer oder deutsche Behörden und Institutionen und so weiter. Dazu kommt noch der eiserne Wille der einheimischen Population, dort wo sie ihre Chance wittert, auf verschiedenste Weise mitzumachen: als Unterschlupfgeber, als moralischer und logistischer Unterstützer, als nichts-gesehen-nichts gehört-nichts-gesagt, als Claqueur und Nachahmer. Wem all das allzu vertraut erscheint, sollte nicht an der Zuverlässigkeit der eignen Sinne zweifeln. Es ist die deutsche Konditionierung.
Genau dieser Zusammenhalt hat es während der Vernichtungsphase des NSU-Projektes ermöglicht, neunmal erfolgreiche Hinrichtungsaktionen an den als Fremdkörper auserwählten durchzuführen, sowie, während der technisch/formalen Abwicklung (Gerichtsprozess) des Geschehens, eine störungsfreie und bühnenreife Show abzuziehen.
Die besondere deutsche Bereitschaft, sich an Morden zu beteiligen, sie zu organisieren, sie durchzuführen, sie für richtig zu halten, nicht zu zögern, ohne Widrigkeiten und ohne Sorgen, irgendwann Rechenschaft abgeben zu müssen, hat die Vernichtungsphase des NSU-Projektes und ihren ungestörten Ablauf ermöglicht: neun erfolgreiche Morde an meist offenbar beliebig ausgewählten Menschen, an offenbar beliebig ausgespähten Orten. Neun Morde, die keiner Erklärung bedurften, um von nahestehenden und entfernteren Komplizen verstanden zu werden.
Es ist wirklich nicht erforderlich, detektivische Fähigkeiten zu besitzen, um zu erkennen, was die Vernichtungstaten logistisch, strukturell, finanziell erforderten: vernetzte Strukturen, organisatorische Einbeziehung von Personen mit unterschiedlichstem know-how (technisch, moralisch, deutsch), vertraute Lieferanten von Waffen, Pässen, Ausweisen, usw. All das wurde jahrelang von Teilen der Bevölkerung und den involvierten Institutionen beigetragen. Das ist wesentlich leichter zu erkennen als das Psychogramm von Frau Zschäpe. Es bedarf keiner Fantasie und keine verschwörungstheoretische Ansätze um nachzuvollziehen, dass hier kein kleines Grüppchen von Versprengten tätig war, sondern ein viel größerer Zusammenhang bzw. Zusammenhalt die Taten möglich machte.
Und er hielt in jeder Hinsicht dicht. Kein einziger Riss, keine Aussteiger, keiner, der zufällig oder aus Unachtsamkeit oder gar aus schlechtem Gewissen etwas ausplauderte. Von Denunziation ganz zu schweigen. Genau dieser Zusammenhalt wurde entsprechend seitens der Judikative honoriert, indem sie einen Prozess durchführte, wo alles Mögliche zur Sprache kam, außer den involvierten Tätern, ihren Mithelfern, Unterstützern usw. Die auch in der Vergangenheit erfolgreich durchgeführte Einzeltäter-Theorie wurde diesmal zur Tätertrio-Theorie modifiziert – von dem Trio waren aber 2 bereits tot, so dass juristisch doch wieder ein Einzeltäter übrig blieb.
In diesem Prozess in all seinen Bestandteilen lief nichts zufällig. Das Schreddern der NSU-internen Unterlagen war kein Zufall, der Tod von mehreren Zeugen war kein Zufall, die Anwesenheit von VS-Leuten an den Exekutionsorten war kein Zufall, das im besten Fall herrschende Desinteresse der rechten wie linken Gefolgschaft war kein Zufall.
Es war aber auch kein Zufall, dass die NSU aus dem Osten kam. Aus dem Teil, der die Brutstätte der NSU war und als Rückzugsgebiet diente und dient, der Schutz und Geborgenheit bot und bietet. Nach wie vor ist die Wahrscheinlichkeit, angegriffen zu werden, im Osten mehrfach höher als im Westen. Das sagen uns sogar die nach unten frisierten und veröffentlichen Zahlen der Institutionen. Nach wie vor entstehen würdige Nachfolger bzw. Erben von Hoyerswerda, Lichtenhagen, Grevesmühlen, Goldberg usw. Sie nennen sich jetzt Wurzen, Freital, Zwickau, Heidenau, Tröglitz, Nauen, Bautzen usw. Die Liste kann beliebig erweitert werden. Für diese Entwicklung haben sie allerlei Erklärungen parat. Von SED-Diktatur bis Sozialklimbim-Zwänge und „allein-gelassen-Gefühle“. Immer noch. Nach 28 Jahren deutscher Erosion, Wiedervereinigung genannt. Doch längst sind Forderungen nach einem Wiederaufbau der Mauer, nach der Umgestaltung des Ostens in einen Rassistenzoo für ausländische Besucher usw. zur kabarettistischen bzw. humoristischen Beilage geworden. Da ertappen wir uns als ziemlich einsam, weil wir nichts Lustiges daran finden.
Die reibungslose Durchführung dieses Prozesses war nur möglich, weil wieder mal die tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner dieser Tötungshandlungen fehlten. Die Linke und linksradikale Szene, aber auch die verschiedenen Kanaken-Gemeinden, hielten sich lauthals zurück. Zumindest so lange wie sich die offiziellen Polizeiversionen über die zwielichtigen Machenschaften der Mordopfer aufrecht erhalten ließen. Danach überbot man sich mit Angeboten, das Leben der Opfer und ihrer Familien in einer kohärenten und verständlichen Erzählung aufgehen zu lassen, als deren Autoren und Verwalter man sich nun in Szene setzen konnte. Manche schafften es sogar, der Mordserie eine reife Tribunal- und Bühnen-Show zu geben.
Übrig geblieben ist die kritisch kommentierende Begleitung des Vorgangs mit Beileidsbekundungen aller Art und Nachempfindungen besonders drastischer Gefühle, von denen sich die Zuschauer bei der Begutachtung der Verhaltensweisen der Überlebenden im Fernsehen, im Kino und den Theaterbühnen des Landes berühren lassen können .
Gemessen an den Vorgängen müssten jeden Tag, 365 Tage im Jahr, „welcome-to-hell“-Riots stattfinden. Mindestens.
Fanden aber nicht statt. Der Grund dafür: Es handelte sich bei den Ermordeten um keine heldenhaften Kämpfer, die in irgendeinem Kampf für ihre Ideen gefallenen sind. Ihr schlimmstes Vergehen war einzig und allein ihr Dasein in Deutschland. Ihre bloße Existenz und der Vollzug der Wiedervereinigung wurden ihnen zum Verhängnis. Unattraktive Opfer also. Mit schweraussprechlichen Namen… die man erst mal einüben musste, um dem politisch korrekten Antirassismus zu entsprechen.
Und Opfer sind bekanntlich in Deutschland bei den Linksdeutschen unbrauchbar. Höchstens als Soli-Objekte oder Projektionsfläche, wenn gerade mal revolutionäre Pause eingelegt wird. Und dies hat Tradition. Wer erinnert sich nicht daran, als in den 80er Jahren die Suche nach dem jüdischen Widerstand los brach. Sechs Millionen Ermordete waren nicht Grund genug, um sie auf die Palme zu bringen.
Die Post-Auschwitz-Gesellschaft befindet sich inzwischen wieder in einer aufrührerischen Phase. Das Trauma der Ankunft von 1,5 Millionen Geflüchteten nagt an der deutschen Substanz und erzeugt neue deutsche Wellen-Bewegungen, als Vorboten der kommenden Aufstände des gesunden Volkszorns gegen Geflüchtete/Kanaken und Finanzkapital. Manchmal sogar gegen beides. Gleichzeitig.
Nebenbei, was diesen unsäglichen Diskurs bezüglich des sogenannten „Bleiberecht“ betrifft, genügt entgegen zuschleudern: Wer hier wohnt ist von hier. Alle darüber hinaus gehende Diskussionen, selbst wenn sie gut gemeint sind, sind verdächtig, die bestehende eliminatorische Ordnung zu stärken.
“Gesunder Volkszorn“ heißt auf Deutsch: Sie sind gegen Antisemiten und Juden, sie kämpfen gegen Intoleranz und Muslime. Sie analysieren und psychologisieren das Profil der Täter, sie forschen deren soziales, familiäres, kulturelles, usw. Umfeld oder gar deren Aufklärungsdefizite, um den Grund für deren Taten oder neue Betätigungsfelder für sich selbst zu finden. Wir ersparen uns all das und verraten es denen: Der Grund ihres Tuns ist viel unkomplizierter: weil sie es können. Sie daran zu hindern bleibt aktueller denn je.
Auch wenn wir uns wiederholen:
Wir dürfen nicht warten bis sie schießen

Café Morgenland, Juli 2018

Berlin: Redebeitrag Tribunal "NSU-Komplex auflösen"

Redebeitrag der Initiative Tribunal „NSU-Komplex auflösen“!

Tag der Urteilsverkündung im NSU Prozess, 11. Juli 29018
»Unsere letzten Worte richten wir an das Oberlandesgericht an den Vorsitzenden Herrn Götzl und den Senat. Wir möchten, dass sich der Senat vor Ort im Internet Café, in dem mein Sohn Halit ermordet wurde, von den örtlichen Gegebenheiten in meinem Beisein ein Bild macht. Denn dann werden auch Sie sehen, dass der damalige Verfassungsschützer Andreas Temme lügt. Sollte es keine Vorort-Besichtigung geben und die Ungereimtheiten von dem damaligen Mitarbeiter des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz nicht aufgeklärt werden, weil der Senat Temme glaubt, ist für uns das gesprochene Urteil bei Beendigung des Prozesses vor Gericht nichtig. Wir werden das Urteil nicht anerkennen.“
Diese Worte sprach İsmail Yozgat, der Vater von Halit Yozgat, am 6. April 2016 in Kassel auf der Kundgebung zum zehnten Todestag seines Sohnes. Sein Antrag auf Besichtigung des Tatortes wurde vom Gericht abgelehnt. Mehr noch: Mitte Juli 2016 hat Richter Götzl einen für den Ausgang dieses Strafverfahrens wegweisenden Beschluss verkündet: »Die Angaben des Zeugen Temme in der Hauptverhandlung sind nach vorläufiger Würdigung glaubhaft“. Auch im heutigen Urteil bleibt Temmes Beitrag unbenannt.
Es ist unwahrscheinlich, dass Andreas Temme sich noch vor Gericht für seinen Beitrag zum Mord an Halit Yozgat verantworten muss. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass der Generalbundesanwalt nach dem heutigen Urteil einen zweiten Strafprozess gegen das Unterstützernetzwerk des NSU anstrengen wird. Unwahrscheinlich ist es schließlich auch, dass all jene, die sich hinter den Strukturen ihrer rassistischen Normalität verstecken von einem deutschen Gericht verurteilt werden: die Journalist_innen, die von Dönermorden und düsteren Parallelwelten fabulieren, die Beamten, die die Angehörigen und Opfer erpresst, eingeschüchtert und kriminalisiert haben und die Agenten in den geheimen Diensten, die das Morden der Nazi-Zellen bewirtschaftet haben und die die Spuren dieser gemeinschaftlichen Taten heute akribisch verwischen.
Ein Grund mehr, dass wir uns den oben zitierten Worten von İsmail Yozgat anschließen und weiter fordern, dass alle Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden und dass allen Opfern Gerechtigkeit widerfährt.
Wir fordern weitere Strafverfahren gegen die konkret benannten Nazis und V-Personen im NSU-Komplex! Wir fordern Konsequenzen für die Politiker*innen, für die Staatsanwält*innen, für die Polizist*innen und für die Journalist*innen, die das Leben der Betroffenen ein zweites Mal zerstört haben.
Auf dem NSU Tribunal im Mai 2017 in Köln haben wir deshalb 90 Personen angeklagt, die nicht im Strafprozess in München angeklagt waren. Wir klagen dabei sowohl die Ermöglichungsbedingungen als auch die Verantwortung einzelner Personen im NSU-Komplex an – weil beides nicht voneinander zu trennen ist. Der NSU-Komplex geht über die individuelle Täterschaft bei den Morden und Bombenanschlägen weit hinaus; gleichwohl kann sich niemand hinter abstrakten Strukturen verstecken.
Diese Anklage des Tribunals war und ist eine notwendige Intervention. Doch sie ist nicht abschließend, die Öffentlichkeit muss sie fortschreiben und für weitere Aufklärung einstehen. Das heutige Urteil im NSU-Prozess ist kein Schlussstrich! Solange Personen wie Andreas Temme, Susann Emminger, Johann Helfer und Axel Minrath alias Lothar Lingen nicht auf der Anklagebank sitzen, werden wir keine Ruhe geben!!!!!!!!!
Wir werden weiter gemeinsam mit den Betroffenen von rassistischer Gewalt für die Aufklärung kämpfen und eine Gesellschaft ohne Rassismus einklagen!
Beim NSU-Tribunal in Köln, bei der Möllner Rede im Exil, beim Gedenken an Burak Bektaş, bei der Planung neuer Tribunale und am heutigen Tag: Die Betroffenen werden nicht schweigen. Sie fordern Respekt für ihre Geschichten und Solidarität für ihre Forderungen. Ihre Forderungen sind auch unsere Forderungen:
Entwaffnet die Neonazis!
Löst den Verfassungsschutz auf!
Klagt alle Verantwortlichen an!
Entschädigt alle Betroffenen!
Nennt die Holländische Strasse in Halitstrasse um!
Baut das Denkmal in der Keupstrasse!
 

Redebeitrag: Der NSU, sächsische Normalität

Redebeitrag von sous la plage auf der Demonstration „das Land – rassistisch der Frieden – völkisch, unser Bruch – unversöhnlich“ am 2. September 2017 in Wurzen. Durchgeführt wurde #Wurzen0209 durch das „Irgendwo in Deutschland„-Bündnis.

Der NSU, sächsische Normalität.

Im letzten Jahr waren wir anlässlich des fünften Jahrestags der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in Zwickau. Dort war das Kerntrio und Teile des Unterstützer*innennetzwerks nicht viele Jahre untergetaucht, wie es immer wieder heißt. Nein, hier konnten sie sich in die sächsische Normalität zurückziehen, die ihnen ein fast normales Leben ermöglichte.
Hier war ihr Zuhause, während sie neun rassistische Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, sowie den Mord an Michèle Kiesewetter verübten. Während sie drei Sprengstoffanschläge in Köln und Nürnberg verübten, bei denen viele Menschen verletzt und nur durch Glück niemand getötet wurde.
Diese Normalität in Sachsen bedeutete für den NSU, sich in einem Umfeld zu bewegen, in dem es normal ist, sich rassistisch zu äußern, normal ist, mit Neonazis offen zu sympathisieren und Hitler-Büsten auf dem Fernseher zu haben, wie ihr Nachbar in Zwickau. Wir gehen davon aus, dass sich der NSU nicht groß vor seinen Nachbar*innen verstellen musste und wir wissen, dass sie in ihrer Nachbarschaft mehr als akzeptiert waren. Die „normale“ rassistische Stimmung, die wir im Gerichtssaal bei Aussagen der Nachbar*innen und in TV-Dokumentationen zu sehen bekamen, muss dem NSU noch den Rücken gestärkt haben. Sie wurden während der rassistisch-völkischen Mobilisierung der 1990er Jahre politisiert und hatten die Erfahrung mitgenommen, dass sie mit ihren Taten ausführen, was die Mehrheit des „Deutschen Volkes“ sich wünsche.
Ohne den gesamtgesellschaftlichen Rassismus in Deutschland und Sachsen wäre die Mordserie des NSU nicht möglich gewesen. Es ergab sich vielmehr ein Zusammenspiel: Die Neonazis des NSU mordeten rassistisch, die Polizei ermittelte rassistisch, die Medien berichteten rassistisch, die rassistische weißdeutsche Mehrheitsbevölkerung inklusive seiner Linken hinterfragte dies nicht und hörte nicht die Angehörigen und die Betroffenen, die immer wieder auf ein mögliches rassistisches Tatmotiv hinwiesen.
In München geht der NSU-Prozess seinem Ende entgegen, doch diese Normalität von der wir sprechen ist ungebrochen. Nicht nur das, wir erleben erneut eine rassistisch-völkische Mobilisierung, ähnlich wie die, während der sich der NSU politisierte. Diese spitzt sich gerade hier in Sachsen zu. Weiterhin können wir beobachten, wie auch offen lebende Neonazis in ihrer Nachbarschaft respektiert und akzeptiert sind. Die Aufregung, die unserer heutigen Demonstration entgegenschlägt, lässt Wurzen in Reaktion auf Neonazis absolut missen. Und diese Alltäglichkeit bringt erneut organisierte rechte Terrorzellen wie die Gruppe Freital hervor. Diese wurde erst in ihrer Gefährlichkeit erkannt, nachdem die Bundesanwaltschaft den Fall an sich zog. In der sächsischen Normalität sollten die Mitglieder der Gruppe wegen vereinzelter Delikte vor einem Schöffengericht angeklagt werden. Die Polizisten, die mit der Gruppe zusammenarbeiteten, sind inzwischen „entlastet“ und wieder im Dienst. Das ist heutige sächsische Normalität und Wurzen ist ein Teil davon.
Die Bedingungen sind nicht aus der Welt, unter denen der NSU entstehen und unentdeckt morden konnte und die Aufklärung des NSU-Komplex immer wieder verhindert wird. Der NSU-Komplex ist kein abgeschlossenes Kapitel und Sachsen verharrt weiter im rassistischen Normalzustand…