Bautzen, Kaltort Ranking 2017

Ort: Bautzen
Einwohner_innenzahl: 40.798
Selbstbezeichnung der Stadt: Die Stadt der 2 Sprachen, 8 Museen, 17 Türme, 20 Senfsorten, 80 Innenstadt-Kneipen, über 200 Saurier und eine über 1.000 jährige Geschichte. Außerdem: Kaltort 2016
Die Gewinner-Stadt von 2016 hat auch in diesem Jahr wieder einiges dafür getan, den wohlverdienten Titel als „Kaltort des Jahres“ zu verteidigen. Die Geschichtsträchtigkeit der Stadt zeigt sich eben nicht nur in der beeindruckenden Zahl an Senfsorten und Sauriern, sondern auch den Angriffen auf Geflüchtete und Andersdenkende der letzten Jahre wie auch der Repräsentanz organisierter Nazistrukturen. Erst durch ein Outing des Antifa Recherche Teams Dresden konnte die Karriere eines Bautzener Nazis in der sächsischen Finanzbehörde gestoppt werden.[1] Wie weit das Selbstverständnis Bautzens als zweisprachig und „interkulturell“ reicht, haben die Stadt, ihre Nazis und Bürger_innen bereits im letzten Jahr bewiesen: Hetzjagden auf Geflüchtete, eine schweigende bis zustimmende Bevölkerung und eine untätige Polizei, die diese Vorfälle verharmlost. Diese Leistungen blieben nicht unbemerkt – für die „gelungene Integration“ der Geflüchteten wurde die Stadt in diesem Jahr sogar für den sächsischen Integrationspreis nominiert. Auch wenn es medial um Bautzen ruhiger geworden ist, die allgegenwärtige rassistische Stimmung in der Stadt ist auch 2017 unverändert geblieben. So hat die AfD im Rahmen der Bundestagswahl ein Ergebnis von 32,8 % erzielt – und lag damit noch vor der Stammpartei CDU, deren sächsische Ausprägung bekanntermaßen besonders reaktionär ist.
Die Spielwiese des rassistischen Mobs war auch in diesem Jahr wieder der Kornmarkt. Am Abend des 28. Juli 2017 kam es erneut zu rassistischen Angriffen auf eine Gruppe von Geflüchteten, u.a. mit einer abgebrochenen Bierflasche. Die beteiligten Nazis hatten sich über die sozialen Netzwerke organisiert und zusammengerottet, Teile von ihnen waren mit Pfefferspray und Sturmhauben bewaffnet. Die Polizei reagierte mit deutlich kommunizierter „deutscher Härte“ und verbalen rassistischen Angriffen gegenüber den Geflüchteten. Und die Reaktion der Stadt darauf – ein Aufenthaltsverbot in der Stadt für einen jungen Geflüchteten, der als Verantwortlicher für mehrere Vorfälle im Zusammenhang mit dem Kornmarkt ausgemacht wurde. Klar ist: nicht der Mob, sondern die Geflüchteten sind das Problem – vermutlich aus diesem Grund hat ein CDU Landrat auf Facebook einem NPD Funktionär Informationen über einen Geflüchteten zur Verfügung gestellt.[2] Sächsische Verhältnisse at its best.
In der Begründung für den Titel schrieben wir im letzten Jahr:
„Bautzen ist, wenn die Nazis machen können, wie sie wollen. Wenn Sorb_innen und Geflüchtete zu Gejagten werden, wenn Menschen, die sich mit ihnen solidarisieren, ebenfalls zum Ziel erklärt werden.“
Gerade rund um (alkoholbefeuerte) Volksfeste findet der Mob den Mut zum Zuschlagen: So zeigten sich Nazis offen mit „Landser“ Klamotten auf dem Weihnachtsmarkt, genossen die tägliche (kein Scheiss!) Darbietung der Feuerzangenbowle[3] und schlugen dort Anfang Dezember ein Mitglied der Linksjugend krankenhausreif zusammen.[4] Letzte Woche hat es nun wieder geknallt, insgesamt 15 Jugendliche “ Einheimische und Zugereiste verschiedener Nationalitäten“ sollen laut der unerträglichen Sächsischen Zeitung „in Streit geraten sein.“[5]
Das bedeutet neben gepackten Reisetaschen in euren Kofferräumen, dass ihr auch über die Feiertage wohl immer mal einen Blick in die sozialen Medien (also auch jenseits des Kaltort-Rankings) werfen solltet. Und natürlich, dass Bautzen drauf und dran ist den Titel zu verteidigen.
1- https://naziwatchdd.noblogs.org/post/2017/12/13/boxnacht-bautzen-nazis-vor-und-hinter-den-kulissen/
2- http://www.zeit.de/2017/33/rechtsextremismus-bautzen-alexander-ahrens/seite-2, 21.12.2017
3- http://feuerzangenbowle.blogsport.de/2008/12/01/erster-eintrag/
4- http://www.schmanle.de/category/die-schlechte-seite/
5- http://m.sz-online.de/nachrichten/auseinandersetzung-auf-dem-kornmarkt-3845793.html
 

  • Im letzten Jahr stach Bautzen als Elendster der furchterregenden Orte hervor, zumindest stimmten am meisten Menschen dafür, dass Bautzen Kaltort des Jahres sein sollte. Die Beschreibung der lokalen Situation des letzten Jahres könnt ihr hier nachlesen, hier gibt es unser Anschreiben an die Stadtverwaltung und ein Video vom Pokalversand.
  • Die diesjährige Abstimmung findet der Einfachheit halber wieder auf Facebook statt. Wenn ihr am Abstimmen Anfang 2018 Interesse daran habt, müsst ihr in diesem Event teilnehmen.

Anklam, Kaltort-Ranking 2017

Kaltort-Ranking2017: Anklam
Einwohner_innen: 12.712 Einwohner_innen
Selbstbezeichnung: Das Tor zur Sonneninsel Usedom, Geburtsstadt des Flugpioniers Otto Lilienthal Motto: „Ich flieg auf Anklam“
Anklam liegt in Ostvorpommern und hat alles zu bieten, was eine Stadt in einer der strukturschwächsten Regionen Deutschlands ausmacht: hohe Arbeitslosigkeit, massive Bevölkerungsabwanderung, Perspektivlosigkeit und haarsträubende Wahlergebnisse.
Bei der Landtagswahl 2016 hängte die AfD mühelos alle weiteren Parteien ab. Ihr Kandidat Dr. Matthias Manthei erhielt mehr als 30 Prozent der Wählerstimmen. Zur Bundestagswahl 2017 erwies sich die AfD in der Hansestadt, mit über 20 Prozent, als zweitstärkste Kraft. Nur einen Tag später kehrte Manthei seiner Partei den Rücken. Die AfD sei ein Sammelbecken für Radikale geworden und in der Partei hätten sich zahlreiche frustrierte Menschen versammelt, die voller Hass gegen Andersdenkende sind, so seine Begründung. Man ersetze AfD durch Anklam und könnte es kaum treffender formulieren.
Auch die NPD ist in Anklam nach wie vor etabliert und fest im Stadtbild verankert. Ihr ehemaliger Landtagsabgeordneter, der Rechtsanwalt Michael Andrejewski, lädt jeden Montag zur Sozialberatung in das „Nationale Bildungs- und Begegnungszentrum“ in der Pasewalker Straße. Hier hat es sich die NPD seit 2007 in einem ehemaligen Möbelhaus gemütlich gemacht, welches Andrejewski und Tino Müller, ebenfalls NPD-Mann und Kameradschaftsaktivist, bei einer Zwangsversteigerung erwarben. Desweiteren ist das Gelände einer ehemaligen Großbäckerei in rechtsextremem Besitz. Dort ist neben einem NPD-Büro auch der rechtsextreme Verlag „Pommerscher Buchdienst“ und die „Pommersche Volksbibliothek“ eingerichtet. Fünf Gehminuten vom Anklamer Rathaus entfernt liegt das „New Dawn“, ein Fachgeschäft für einschlägige Klamotten, CD‘s und Printmedien.
Seit Jahren unterwandert die NPD die Zivilgesellschaft und macht sich die Versäumnisse der anderen Parteien zunutze. Sie veranstalten kostenlose Grill- und Kinderfeste. Es ist keine Seltenheit, dass bei Stadtfesten Akteure der rechten Szene als Security arbeiten. Rechtsextreme Szene und bürgerliches Leben sind in Anklam fest miteinander verflochten. Jeder Stadtbewohner findet regelmäßig den „Anklamer Boten“ in seinem Briefkasten – ein vermeintlich unabhängiges Mitteilungsblatt, welches Andrejewski herausgibt.
Anklam fällt außerdem durch eine starke Kameradschaftsszene auf, in der bis zu 60 Personen autonom agieren. Der Kameradschaftsbund Anklam (KAB) entstand im direkten Umfeld von „Blood & Honour“ und ist eine der ältesten Kameradschaften im Nordosten. Er zählt zum Netzwerk der Hammerskin Nation.
Doch auch in Anklam gibt es einen Lichtblick: Im Jahre 2014 wurde der Demokratiebahnhof ins Leben gerufen. Das Jugend- und Kulturzentrum wird ehrenamtlich organisiert und hat sich auf die Fahne geschrieben, zur Entwicklung einer lebendigen Zivilgesellschaft beizutragen. In dem ehemaligen Bahnhofsgebäude finden regelmäßig Vorträge, Diskussionsrunden, Film- und Musikabende statt. Seit seiner Gründung muss sich der Demokratiebahnhof leider ebenso regelmäßig gegen rechte Anfeindungen und Angriffe wehren. Im vergangenen Juni kam es beispielsweise zu einem nächtlichen Anschlag, bei dem Farbbomben und Molotowcocktails flogen. Zu diesem Zeitpunkt übernachteten 7 Pfadfinder in dem Hausprojekt und nur durch ihr beherztes Einschreiten konnten schlimmere Folgeschäden verhindert werden.
Ihr seht: Anklam ist heiß auf den Titel #Kaltort2017!

Hamburg, Kaltort-Ranking 2017

#Kaltort-Ranking 2017: Hamburg
Im letzten Jahr schaffte es Hamburg bereits nicht wegen rassistischer Gewalt (gibt es dort auch) oder Brandanschlägen auf Geflüchteten-Unterkünfte (gibt es dort leider auch) ins Kaltort-Ranking, sondern aufgrund des besonderen Nadelstreifenrassismus. Gleich in mehreren Vierteln verhinderten besserverdienende Anwohner_innen per Anwalt Geflüchteten-Unterkünfte in ihrer Nachbar_innenschaft und ein Zusammenschluss von Bürger-Initiativen erreichte eine Obergrenze für die Aufnahme von Geflüchteten im Stadtstaat, sowie eine maximale Beleggröße von Unterkünften – im Interesse der Geflüchteten natürlich.
Trotz punktueller Hetzkampagnen zum Beispiel gegen schwarze Drogenverkäufer im Hafen hatte sich Rassismus bisher nicht als Kitt für die völkische Vergemeinschaftung in der Hansestadt geeignet. Weil die Mehrheit noch auf den reibungslosen Ablauf der bürokratischen Bekämpfung von Migrant_innen durch die Bundesbehörden vertraut, wäre ein arbeitsteiliges Bündnis mit Neo-Nazis, wie andernorts erprobt, eher störend für das, dank staatlicher Verwaltung des rassistischen Ausschlusses, reine Selbstbild. Die gemeinschaftsstiftende Abgrenzung, die das rassistische Ticket nicht zu leisten vermochte, ermöglichte in diesem Jahr ein anderes Feindbild: Demonstrant_innen und ‚linke Chaoten‘. Im Nachklapp des G20-Gipfels formierte sich ein antikommunistisches Ressentiment im Bündnis von Senat, konservativer Opposition, Rechten und aufgebrachten Bürger_innen, was weit über die Stadtgrenzen hinaus strahlte. Dabei zeigte die lokale Bevölkerung, dass sie in Sachen autoritärer Formierung nicht länger hinter dem Rest der Republik zurück zu stehen gedachte.
In den Tagen und Wochen nach dem Gipfel wurde kein Superlativ ausgespart in der Berichterstattung von Sachschäden und Bedrohungsszenarien, die so genannte linke Krawalltourist_innen über die Stadt gebracht hätten. Anwohner_innen fabulierten vom Bürgerkrieg, den sie wegen der Protestierenden durchzustehen hatten und eine Anwohnerin verstieg sich gar zu der Behauptung, die Ausschreitungen seien „wie Holocaust“ gewesen. Die ganze Stadt fieberte aufgeputscht bei den sich übertrumpfenden Katastrophen-Erzählungen mit und landesweit fühlte man sich auf dem Fernseh-Sofa persönlich betroffen von Flaschenwürfen und brennenden Autos. Wochenlang war die lokale Journaille gefüllt mit Artikeln und Leser_innenbriefen, in denen auf hysterische Empörung über die Geschehnisse unmittelbar Forderungen nach einem harten Durchgreifen gegen vermeintliche Täter_innen und linke Strukturen folgten, wobei sich nicht mit lästigen rechtsstaatlichen Grundsätzen aufgehalten wurde. Im Internet überschlugen sich die Gewaltfantasien gegenüber Demonstrant_innen und so manches Video, das Übergriffe durch Polizist_innen dokumentieren sollte, provozierte mehr Beifall als Entsetzen. Als eine namhafte Zeitung öffentlich dazu aufrief für verletzte Polizist_innen zu spenden und ein Benefiz-Konzert in der Elbphilharmonie initiierte, brach eine Solidaritätswelle los, die unzählige weitere Unternehmen – städtische wie private – dazu veranlasste Sonderrabatte für Polizeibeamt_innen anzukündigen. Drollig lächelnde Kinder wie rotbäckige Erwachsene überkam spontan der tiefe Wunsch sich bei ‚ihren‘ Streifenpolizist_innen für deren tolle Arbeit zu bedanken, nicht ohne einen Schnappschuss für die lokale Tageszeitung selbstverständlich.
In dieser aufgeheizten Stimmung verkündete Bürgermeister Olaf Scholz kategorisch, es habe keine Polizeigewalt gegeben und echauffierte sich anschließend sogar über die bloße Verwendung des Wortes, das er als linken Kampfbegriff diskreditierte. Zugleich sicherte er den durch die Krawalle geschädigten Geschäften schnelle und unbürokratische Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe zu; eine Zuwendung, um welche die Angehörigen der NSU-Mordopfer jahrelang kämpfen mussten. Während Scholz die traumatischen Gewalterlebnisse tausender Demonstrant_innen und zahlreiche Grundrechtsbrüche durch die Staatsgewalt unter medialem Zuspruch weg dekretierte, machten sich einige Hamburger_innen spontan daran die Spuren des Protests selbst zu entsorgen und eigenhändig wieder Ordnung in der Stadt herzustellen. Mehr als Tausend versammelten sich noch am selben Wochenende, um bewaffnet mit Kehrblech und Putzschwamm medienwirksam die Straßen um die Rote Flora zu schrubben, wo noch die Fugen im Kopfsteinpflaster mit Zahnbürsten bearbeitet wurden, obgleich die Stadtreinigung bereits im Morgengrauen ihren Dienst getan hatte.
Diese Inszenierung wurde zum Gründungsmythos eines gemeinsamen Selbstverständnisses, demnach man geschlossen dem ‚linken Terror‘ trotzen würde. Es folgte ein Choral an Beteuerungen, Deutschland dürfe nicht blind auf dem linken Auge sein und die Rückzugsorte der linken Szene müssten geschlossen werden – in Hamburg, Berlin und ganz Deutschland. Abseits der markigen Worte, entlädt sich der Volkszorn jedoch bisher vor allem an denjenigen, denen seither der Prozess gemacht wird. Nach eigenmächtigen Fahndungsaufrufen mit unscharfen Bildern von Überwachungskameras stellen die Lokalzeitungen nun die Angeklagten öffentlich an den Pranger und schlachten jede Verurteilung aus. Der neu geschaffenen Straftatbestand des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte kommt regelmäßig zum Einsatz und willfährige Richter_innen bewiesen gleich zu Beginn der Prozesse die Bereitschaft mit drakonischen Strafen dem Volksempfinden zu entsprechen. Ein junger Italiener beispielsweise saß über vier Monate in Untersuchungshaft, obwohl nicht einmal die Staatsanwaltschaft ihm eine konkrete Gewalttat zur Last legt, sondern bloß die Teilnahme an einer unangemeldeten Demonstration. In diesem wie auch in anderen Fällen, wird dabei von einem Passus des Jugendstrafrechts Gebrauch gemacht, der im Nationalsozialismus eingeführt wurde und eine Strafverschärfung vorsieht, wenn dem_der Jugendlichen eine ’schädliche Neigung‘ attestiert wird.
Im Rausch der Ereiferung über die vermeintlichen linken Randalierer_innen und die öffentlich zelebrierte Identifikation mit der Staatsgewalt wurden die autoritären Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sowie die massive Gewalt durch die Polizei nicht nur hingenommen sondern mit breiter Zustimmung geadelt. Wie schnell sich durch solche Ereignisse die Grenzen das Machbaren verschieben, zeigt sich an der Bereitschaft quasi militärisch ausgerüstete SEK-Einheiten im Zuge von Protestgeschehen einzusetzen. Wurde der erste Einsatz beim G20-Gipfel noch mit der Angst um Leib und Leben von Polizist_innen gerechtfertigt, so diente das SEK am Folgetag schon nur noch der präventiven Einschüchterung der versammelten Massen. Zwei Monate später dann, begrüßte eine solche Einheit eine 400 Personen große Antifa-Demo in der sächsischen Provinz mit Maschinenpistolen.
 
Hamburg war bereits im Kaltort-Ranking 2017 nominiert, den Text findet ihr hier. Neben Informationen über die leise & effiziente Arbeit der rassistischen Bürgerinitiativen gaben wir damals folgende Vorausschau: „Idyllische Einblicke in das Hamburger Innenleben bieten sich immer wieder, absehbar insbesondere im nächsten Jahr, wenn Schills Polizeikader Dudde hauptverantwortlich den G20-Protest zusammenknüppeln lassen darf.

Freital, Kaltort Ranking 2017

Ort: Freital
Bevölkerung: 39.734 Einwohner*innen
Selbstbezeichnung: Große Kreisstadt Freital, leider damals nicht Deupodö-Stadt, Stadt in der “Erlebnis-Region Dresden”
“Wie wollen wir gemeinsam in Freital leben? Unter diesem Titel lädt Oberbürgermeister Uwe Rumberg im Namen des Stadtrates zum Bürgerdialog ins Stadtkulturhaus ein. Wohl kein anderes Thema beschäftigte die Stadt und ihre Bürger im letzten Jahr so, wie das Thema Flüchtlinge.”[1]
So formuliert die Große Kreisstadt Freital in ihrem Jahresrückblick das Thema, das sie 2016 beherrscht hat. Erwartungsgemäß findet sich sonst kein Wort (von Eröffnung und Schließung der Geflüchtetenunterkunft abgesehen) dazu, stattdessen wird von gemeinschaftlichen Highlights wie dem “Vierten Freitaler Trabant Tagestreffen” berichtet, zudem werden lauter als “interkulturell” oder „international“ ausgezeichnete Festivitäten angeprisen und so einige Gründe aufgelistet, anlässlich derer Oberbürgermeister Uwe Rumberg (CDU) Kränze für die Menschen, “die im Krieg und durch Gewaltherrschaft starben” niederlegte.  Von den rassistischen Protesten gegen die Geflüchtetenunterkunft im Hotel Leonardo und der daraus entstandenen Naziterrorgruppe, die mit Anschlägen gegen Geflüchtete, einen Stadtrat der Linken und ein alternatives Hausprojekt den Namen Freital prägte, ist selbstredend kein Wort zu finden.[3]
Das passt zur aktuellen Gefühlslage in der Erlebnis-Region: Dort werden die Angriffe zu Lausbuben-Streichen verklärt, über Worte wie „Polenböller“ die Sprengsätze abgewertet und die Verhandlung als „Schauprozess“ delegitimiert.[2] Dass die Anklage auch auf versuchten Mord lautet, kratzt nicht am guten Image der aktiv gewordenen, besorgten Bürger*innen aus Freital. Sie agierten vor einer größtenteils gleichgültigen bis unterstützenden Mehrheit, die bspw. von Michael Richter, einem der Opfer der Gruppe Freital angesprochen wurde, als er bekannt gab, die Stadt wegen ihr zu verlassen. Auch die Ergebnisse der Bundestagswahl sprechen eine deutliche Sprache: Dort schnitt die AfD mit 34,9% als stärkste Partei noch vor der CDU (25,7%) ab. Dabei zeigte sich deren amtierender Oberbürgermeister als rechter Hardliner, schimpfte bspw. in Pegida-Slang über „Glücksritter, die nach Deutschland kommen, um auf Kosten der Gemeinschaft ein sorgloses Leben ohne Gegenleistung zu führen“, forderte Grenzen der Willkommenskultur.[4]
Ein Mann der markigen Worte also, der aber auch die zweite Disziplin als Bürgermeister eines rassistisch dominierten Kaffs gewohnt meistert: das Relativieren der Allgegenwart und Macht der Naziszene: „Wenn ich sage: 40.000 Einwohner hat die Stadt, und es ist eine Handvoll vielleicht, die das Treiben hier verrückt machen. Das darf man nicht schönreden und da darf man auch nicht weggucken, aber man sollte es auch nicht überbewerten.“[2] Eine echte Naziszene gäbe es in Freital schon einmal nicht, lässt er weitergehend in einem weiteren Interview wissen.[5] Woher die rassistischen Graffiti in der Stadt kommen, die der Journalist ebenfalls anspricht, bleibt dann unkommentiert. Wichtig dagegen ist Rumberg deren Entfernung, damit die Stadt „auch optisch das ausstrahlt, was sie verdient“. Meint: keine Graffiti, die Investitionen gefährden könnten.
Dafür sorgt das integrative Projekt „Deutsch ++ – Deutschunterricht und gemeinnützige Arbeit für Asylbewerber und Flüchtlinge“, bei dem diejenigen, die von den Parolen auf Freitals Wänden direkt angesprochen wurden, sie für 1,5€/Stunde entfernen „konnten“ und dabei laut twitter erwartungsgemäß rassistisch bepöbelt wurden.[7] Wieder so ein Projekt, das im Jahresrückblick keine Erwähnung findet.
In Freital ist die völkische Vergemeinschaftung schon weit fortgeschritten. Selbst nachdem sich unter aller Augen Freitaler*innen organisierten, um Geflüchtete und Linke umzubringen (unter anderem wurde gegen Freitaler Cops ermittelt, Freund*innen und Nachbar*innen lagerten beispielsweise Sprengsätze, die später bei Anschlägen eingesetzt wurden), gibt es keinen Bruch, sondern Relativierung. So stellte sich die CDU gemeinsam mit den Fraktionen von AFD und Freien Wählern gegen die Ergebnisse der „Regierungsstudie zum Thema Rechtsextremismus in Ostdeutschland“ gegen „die Brandmarkung unserer Stadt, unserer Region und der hier lebenden Menschen“.[8] Dabei nehmen sie auch gleich das durch rassistische Ausschreitungen bekannt gewordene Heidenau mit in Schutz. Derart um ihr Image bemüht, schreien die Freitaler*innen eigentlich um den Kaltort-Pokal 2017 oder andere Aktionen, die geeignet sind, den dort tatsächlich herrschenden Charakter herauszustellen und zu kritisieren.
[1]: Der Jahresrückblick der Stadt Freital: http://freital.de/media/custom/530_7973_1.PDF?1486455705
[2]: Panorama: „Lausbuben“: Wie man in Freital Terroristen verharmlost. https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2017/Lausbuben-Wie-man-in-Freital-Terroristen-verharmlost,freital112.html
[3]: Stattdessen findet ihr zur Verbindung von Gruppe Freital, Stadtbevölkerung und Polizei so einige Worte bei deutschland demobilisieren: Gruppe Freital – Der „Nationalsozialistische Vordergrund“ von der Tankstelle: https://deutschlanddemobilisieren.wordpress.com/2017/03/08/gruppe-freital-der-nationalsozialistische-vordergrund-von-der-aral-tankstelle/
[4]: Freital, Bundestagswahl 2017: https://www.statistik.sachsen.de/wpr_neu/pkg_s10_erg_lw.prc_erg_lw?p_bz_bzid=BW17&p_ebene=GE&p_ort=14628110
[5]: „Das grenzt an Verleumdung“. Oberbürgermeister Uwe Rumberg (CDU) über „Laut gegen Nazis“, Freitals Image und Pläne für eine Bürgerversammlung: http://www.sz-online.de/nachrichten/das-grenzt-an-verleumdung-3385595.html
[7]: Das ist „Deutsch ++“: Geflüchtete dürfen Nazisprühereien in Freital entfernen: http://sprachlos-blog.de/das-ist-deutsch-gefluechtete-duerfen-nazispruehereien-in-freital-entfernen/
[8]: CDU und AfD paktieren in Freital gegen Rechtsextremismus-Studie: http://www.tagesspiegel.de/politik/sachsen-cdu-und-afd-paktieren-in-freital-gegen-rechtsextremismus-studie/19879844.html

Nürnberg, Kaltort-Ranking 2017

Ort: Nürnberg
Bevölkerung: 509.975 Einwohner*innen
Selbstbezeichnungen: Noris, „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“, Stadt des weltberühmten Nürnberger Christkindlesmarkts, Albrecht-Dürer-Stadt
Nominiert, weil:
Alte Kälte rostet nicht. Nürnberg, von Hitler zur „deutschesten aller deutschen Städte“ gekürt, nahm im Verlauf der nationalsozialistischen Massenvernichtung eine besondere Stellung ein. In der Stadt, die die Kulisse für die Reichsparteitage darstellte, wurde im September 1935 das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ entworfen, die sogenannten Nürnberger Rassengesetze. Doch nicht nur rechtlich wurde in Nürnberg der Massenmord an Juden sowie Sinti und Roma vorbereitet, es war auch die Stadt des Gauleiters Julius Streicher, der mit dem Stürmer wie kein Anderer den unmittelbaren Hass auf Juden schürte. In Nürnberg trafen sich zwei Elemente, die die Vernichtung ermöglichten: Der rechtliche Ausschluss aus dem Kreis der Staatsbürger erlaubte das Morden, der unmittelbare Hass auf die Feinde des deutschen Volkes ließ die Mörder morden.
Mit dem Wiederaufbau der Nürnberger Altstadt, die zu 90 Prozent zerstört worden war, bekam die postnazistische Stadtgesellschaft die Kulisse zurück, um wieder ungestört Bratwurst, Lebkuchen und Glühwein zelebrieren zu können. Von der Sebalduskirche blickt wie eh und je die Judensau-Plastik auf das Bratwursthäusle und am Hauptmarkt, dem Schauplatz mittelalterlicher Pogrome und späteren Adolf-Hitler-Platz, findet alljährlich in der Weihnachtszeit der Christkindlesmarkt statt – dort wo er 1933 platziert wurde. Innerhalb der Stadtmauer wird ausschließlich den deutschen Vertriebenen gedacht, ein Gedenkort für die ermordeten Jüdinnen und Juden existiert in ganz Nürnberg nicht. Die Opfer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ wurden ebenfalls vor die Tore der Stadt verwiesen. Das „NSU-Mahnmal“ ist eine Verlängerung der Straße der Menschenrechte, einer großflächigen Außenskulptur vor dem Germanischen Nationalmuseum. Der Erinnerungsort, der von der Türkischen Gemeinde in der Metropolregion Nürnberg bei der Einweihung als „museale Lösung“ kritisiert wurde, steht für das neue Nürnberger Selbstbild: Die nationalsozialistische Vergangenheit wurde in einem kommunalen Kraftakt seit Ende der 1980er-Jahre museal und ideologisch so aufgearbeitet, dass sich der Beiname „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“ gegeben wurde. Dass diese Auseinandersetzung nur eine avanciertere Form des Schlussstrichs darstellt, zeigt sich im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, wo erklärt wird, wie die Massen getäuscht wurden, aber nicht warum massenhaft mitgemacht und geschwiegen wurde. Im Memorium Nürnberger Prozesse sorgt der Mythos der Stunde Null dafür, dass während von Weltgeschichte gesprochen, das Fortleben des Nationalsozialismus im postnazistischen Deutschland vergessen wird. Die Leichtfertigkeit, mit der der Erinnerungsort für die Mordopfer des NSU in die kommunale Erinnerungslandschaft integriert wurde, drückt sich exemplarisch darin aus, dass bei İsmail Yaşar das falsche Todesdatum eingraviert wurde. Ein kontinuierliches Gedenken an Enver Şimşek, İsmail Yaşar, Abdurrahim Özüdoğru wird weitgehend der Zivilgesellschaft überlassen, der erste Bombenanschlag des NSU in der Gaststätte „Sonnenschein“ am 23. Juni 1999 komplett ignoriert. Die Vernachlässigung der Tatorte zeigte der Schriftzug „NSU lebt“, der 2016 monatelang an einer Wand in unmittelbarer Tatortnähe prangte. In der Aussage selbst würde maximal eine neonazistische Provokation gesehen werden, die aber nichts mit der gesellschaftliche Realität zu tun hat. In der Stadt der NSU-Morde, wo das Unwort „Döner-Morde“ erfunden wurde und Sonderkommissionen mit so bezeichnenden Namen wie „Bosporus“ und „Halbmond“ ermittelten, wird der Fortbestand der Bedingungen, die den NSU ermöglichten, nicht gesehen. Unter Ignoranz der engen Verbindungen zwischen fränkischer und sächsischer Neonaziszene ist die regionale Unterstützung des rechten Terrors ein Nischenthema. Ossis haben getan, was Ossis tun müssen – und das alleine und aus dem Nichts. Auch angesichts zahlreicher rechter Aufmärsche zeigte die sozialdemokratische Stadtspitze in den letzten Jahren wenig Bereitschaft, ihr traditionelles Paradigma der aktiven Ignoranz aufzugeben. Die Verbindung eines Redners von Pegida Nürnberg zum „Reichsbürger“ Wolfgang P. , der unweit von Nürnberg einen Polizisten ermordete und zwei weitere verletzte, verdeutlicht die Gefahr, die noch von der traurigsten rechten Ansammlung ausgeht. Gemeinsamkeiten zwischen den Vollstrecker*innen des Volkswillens und der Mehrheitsgesellschaft werden ohnehin nicht gesehen: Als die Städte Nürnberg und München als Konsequenz aus den fünf NSU-Morden in Bayern 2015 erstmals den Mosaik Jugendpreis verliehen, bemühte der Nürnberger Bürgermeister in seiner Laudatio ein Beispiel aus Russland, um Rassismus zu problematisieren.
FAZIT:
Sicherlich gibt es Ortschaften in Deutschland, an denen die Kälte unmittelbarer zu spüren ist als in Nürnberg. Seit Ende der 1980er-Jahre spielt die Noris mit Erfolg um die Deutsche Aufarbeitungsmeisterschaft mit. Wenn in Deutschland von Verantwortung und gelernten Lektionen gesprochen wird, ist jedoch größte Vorsicht geboten. Noch ein lokales Beispiel gefällig? Im November fand im Germanischen Nationalmuseum unter Schirmherrschaft des Oberbürgermeisters eine öffentliche Anhörung statt, die versprach, folgende Frage zu beantworten: „Wer hat den Terror weltweit ausgelöst?“ Angeklagt waren ausschließlich ehemalige US-amerikanische Regierungsberater*innen, inhaltliche Unterstützung kam von Personen, die keine Distanz zur BDS-Bewegung haben. Gegen das Frösteln, das Menschrechtsprojekte dieser Art auslösen, hilft kein Glühwein.
Abgestimmt wird auf Facebook, wir haben dort ein Event eingerichtet, in dem auch alle Texte nachgelesen werden können. Ihr findet es hier

Wurzen, Kaltort-Ranking 2017

Ort: Wurzen
Einwohner*innenzahl: 16.992 Menschen (Stand: 2008)
Selbstbezeichnung: Stadt der Erdnussflips/Ringelnatzstadt/Hamburg 2.0
Die Stadt Wurzen liegt versteckt im Umland der einzigen sächsischen Großstadt Leipzig. Das braune Herz des Muldentals hat eine lange Tradition von authentischer Gastfeindschaft und extremer Tristesse. Wurzen ist seit Jahren eine Hochburg rassistischer Bewegungen und organisierter Nazistrukturen und war bereits in den 1990er Jahren bekannt als eine sog. No-Go Area. Auch in diesem Jahr hat die Stadt dahingehend ihrem Namen wieder einmal alle Ehre gemacht. Schon in der Nacht zum 15. Januar 2017 wurde eine Wohnung von Geflüchteten in Wurzen angegriffen, es wurden Fenster eingeschlagen, Pyrotechnik und ein Verkehrsschild in die Räume geworfen. Die örtliche Polizei traf erst ein, als der Angriff auch durch zwei mehrheitsdeutsche Anwohner*innen gemeldet wurde. In der Nacht vorher wurde dieselbe Wohnung bereits angegriffen und es wurden rassistische Parolen gerufen. Im Juni 2017 rotteten sich 60 Personen zusammen und versuchten eine Wohnung von Geflüchteten zu stürmen. Das sind zwei Beispiele zahlreicher Angriffe aus den letzten Jahren. Wie krass diese Bedrohung ist verdeutlicht der Fakt, dass Geflüchtete als Reaktion darauf nicht mehr in Erdgeschosswohnungen untergebracht werden. Zuletzt wurden in der Nacht zum 14.12. die Scheiben der Wohnung eines Geflüchteten mit Pflastersteinen eingeschlagen. Die Täter hinterließen außerdem antisemitische Aufkleber mit Fussballbezug am Tatort, weshalb die Vermutung nahe liegt, dass es sich hierbei um Nazi aus dem Spektrum von Lok Leipzig handelte.
Doch es ist nicht alles braun in Wurzen. Neben den gelblich glänzenden Erdnussflips gab es in diesem Jahr einen weiteren kurzen Lichtblick innerhalb des völkischen Normalzustands. Anlässlich des „Tag der Sachsen“, dem größten sächsischen Volksfest, das an seiner Widerwärtigkeit kaum zu überbieten ist und zeitgleich im Kaff Löbau stattfand, fanden sich am 02.09.2017 einige hundert Antifaschist*innen zu einem get together in der Muldenstadt zusammen – zum Schrecken eines Großteils der örtlichen Bevölkerung. Entgegen der Erwartungen der Antifas, vor Ort kostenlos mit Erdnussflips verkostet zu werden, stand am Wurzener Bahnhof eine bedrohliche Kulisse aus fünf Wasserwerfern und einem Sondereinsatzkommando (SEK) der Polizei bereit. Ein SEK Beamter zeigte sich im passenden Outfit – an seiner Uniform trug er ein Patch mit einem heidnischen Symbol, das sich in Nazikreisen großer Beliebtheit erfreut und bei einem örtlich ansässigen Naziversand erhältlich ist. Die Angst der lokalen Bevölkerung war überall zu spüren – „Einige Hausbesitzer verbarrikadierten sich mit heruntergelassenen Rolladen, andere schraubten Schutzwände aus Holz vor ihre Fensterscheiben.“ (Leipziger Volkszeitung) Entgegen der medialen Prophezeiung von einem Hamburg 2.0 in Wurzen wurde es jedoch kein linkes Krawallfest, sondern ein Schaulaufen der lokalen Nazi-, Hool-, Rassist*innen- und Bratwurst-Szene, die ein Spalier um die Demonstration bildeten. Sogar ein NS-Clown hatte sich an der Demostrecke eingefunden, dessen Bild es bis in die NY Times geschafft hat und somit der Stadt zu weiterer Bekanntheit verholfen hat.
Die Liste der Ereignisse zeigt – verdeckt im Dunst des Knabbergebäcks weisen die Stadt Wurzen und ihre Bewohner*innen spätestens seit den 1990er Jahren eine lange Tradition rassistischer und nazistischer Gewalt auf, an die auch in diesem Jahr angeknüpft wurde. Den Titel „Kaltort des Jahres 2017“ hat die sächsische Perle also mehr als verdient.
 
Abgestimmt wird auf Facebook, wir haben dort ein Event eingerichtet, in dem auch alle Texte nachgelesen werden können. Ihr findet es hier

Kaltort Ranking 2017: Ein Rückblick auf ein weiteres Jahr völkische Mobilisierung

Kaltort-Ranking 2017
Wählt mit uns den elendsten Mistort des Landes + Ziel: Aufmerksamkeit für die anhaltende Gegenwärtigkeit der völkischen Mobilisierung + Mitmachen, teilen, prämieren & abstrafen!
Nachdem die letzten Jahre sowohl hinsichtlich der schieren Zahl von Angriffen, als auch mit verschiedensten Kämpfen zur Verhinderung von Geflüchtetenunterkünften – von über 100 Brandanschlägen bis hin zu Protestcamps auf Zufahrtswegen – beeindruckten, wirken die Ereignisse von 2017 auf den ersten Blick ruhiger. Doch die Vorjahre haben den Maßstab nur so deutlich verschoben, dass die Gewaltätigkeit der völkischen Mobilisierung heute noch häufiger unter den Tisch fällt. Dabei berichtet selbst die Polizei aktuell von „20 rechten Tötungsdelikten“ seit 2016, dabei vergessen werden mindestens die neun rassistisch-motivierten Morde vom Münchener OEZ. Mit durchschnittlich zwei Brandanschlägen auf Geflüchtetenunterkünfte im Monat und gleich mehreren Übergriffen auf Menschen am Tag ist für die Betroffenen der Angriffswelle noch gar nichts ausgestanden oder abgeklungen. Gerade letzte Woche wurde wieder eine Wohnung von Geflüchteten in Wurzen attackiert.

Kaltland in seinen eigenen Taten

Wir wollen das Jahresende wieder nutzen, euch #Kaltland in seinen eigenen Taten vorzuführen. Das Ziel des Kaltort-Rankings ist es, anhand der Beschreibungen der Verhältnisse von verschiedenen (eben nicht nur ostdeutschen) Orten den rassistischen Konsens der Gesellschaft aufzudecken. Dabei hat die Auswahl bei Weitem keinen Anspruch auf Vollständigkeit – wie auch angesichts der Geschäftigkeit mit der die Menschenfeind_innen zu Werke gehen? – sondern ist durch regionale Abdeckung und vor allem die persönliche Abgefucktheit der Schreibenden entstanden.
Das Ranking soll dabei nicht nur zur Information der Leser*innen dienen, sondern eben auch Aufmerksamkeit auf die Orte lenken. Als Bündnis „Irgendwo in Deutschland“ organisieren wir immer wieder Demonstrationen, mit denen wir auch vor Ort auf die unerträglichen Zustände hinweisen und als sichtbare Opposition auftreten. Wir halten unsere unversöhnlichen Interventionen dabei für eine wichtige Reaktionsform in tristen Zeiten [1] und wünschen uns mehr davon. Egal in welcher Aktionsform: Mehr Druck, mehr Stress, mehr Zeichen, dass auch in diesen Jahren nicht jede Grausamkeit unwidersprochen bleibt. Erfahrungsgemäß lässt sich gerade in kleineren Ortschaften leicht Staub aufwirbeln.

Helft mit: Schafft Aufmerksamkeit für deutsche Zustände!

  • So läuft es ab: Ab dem  21. veröffentlichen wir täglich im Facebookevent und auf dem Irgendwo in Deutschland-Blog jeweils einen Text über einen Kaltort. Auch wenn es natürlich weit mehr kritikable Ortschaften gibt, werden wir insgesamt 10 dieser Orte beschreiben und euch zum Jahresende zur Abstimmung freigeben. Wenn die Laune wie letztes Jahr ist, schicken wir auch wieder einen Pokal an den Sieger. Letztes Jahr beschäftigte das zumindest das Social Media-Team der Stadt Bautzen.
    Wir setzen bei diesem Unterfangen auf eure Unterstützung: Ob in SocialMedia-Währung von Likes, Shares und Retweets oder durch Aktionen an den Orten – Rassist_innen angreifen bleibt letztendlich Handarbeit.

 
1: Einen Rückblick auf unsere Aktionsformen und die Demonstration in Wurzen haben wir im Magazin des Conne Island veröffentlicht: https://www.conne-island.de/nf/244/14.html

Unversöhnlich in Wurzen – Ein Rückblick im Newsflyer des Conne Island

Unversöhnlich in Wurzen

Für den Newsflyer des Conne Island haben wir einen Rückblick auf unsere Demonstration in Wurzen, die Verhältnisse vor Ort und unsere Entscheidung für eine unversöhnliche Intervention ausformuliert.

Irgendwo in Sachsen: Wurzen

Das bundesweite Bündnis Irgendwo in Deutschland hat am 02.09.2017 zu einer antifaschistischen Demonstration in Wurzen unter dem Titel „Das Land – rassistisch. Der Frieden – völkisch. Unser Bruch – unversöhnlich“ aufgerufen. Anknüpfend an eine Demonstration anlässlich des 5. Jahrestags der Selbstenttarnung des NSU im November 2016 in Zwickau, hat das Netzwerk in diesem Jahr Wurzen ausgewählt, das sowohl als Blaupause für den bundesweit verbreiteten rechten Konsens herhalten, als auch spezifisch für seine ausgeprägten Neonazistrukturen kritisiert werden sollte. Die Demonstration fand nicht zufällig am Wochenende des Tages der Sachsen, des größten sächsischen Volksfestes, statt, das zeitgleich in der Kleinstadt Löbau begangen wurde. Sachsen feiert sich selbst und präsentiert sich „bunt statt braun“. Wir haben das zum Anlass genommen, die darunter begrabene xenophobe Realität des Landstriches zu betonen.
Sachsen ist die Hochburg der völkischen Mobilisierung in Deutschland und führt die Chroniken der rassistischen Angriffe an. Im Fokus bundesweiter Öffentlichkeit haben Orte wie Bautzen, Clausnitz, Freital oder Heidenau einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt und stehen synonym für Rassismus und Gewalt gegen Geflüchtete und Linke. Wurzen hingegen wurde scheinbar aufgrund seiner langen rassistischen Historie aus den Augen verloren und die hiesigen Zustände finden weniger Beachtung. Ziel der antifaschistischen Demo war es, Wurzen als ein Zentrum rassistischer und neonazistischer Gewalt in Erinnerung zu rufen und als ein exemplarisches Beispiel für die rassistische Normalität in Sachsen anzugreifen.(1)
Wurzen ist seit Jahren eine Hochburg rassistischer Bewegungen und organisierter Neonazistrukturen und war bereits in den 1990er Jahren bekannt als selbsterklärte »national befreite Zone«. Das Zusammenspiel von organisierten Neonazistrukturen, Mob und rassistischer Bevölkerung lässt sich hier idealtypisch verfolgen. Neonazis können sich in Wurzen ungehindert bewegen und sind selbstverständlicher Teil der Stadtgesellschaft, etwa im lokalen Sportverein. Aus derartiger Ruhe agiert es sich umso besser: Aus Wurzen kamen einige der ca. 50 Nazis, die bei dem gewalttätigen Angriff auf Spieler, Verantwortliche und Fans des Vereins Roter Stern Leipzig am 24.10.2009, während des Auswärtsspiels des RSL beim FSV Brandis, dabei waren. Mindestens acht Personen aus Wurzen waren auch an dem Nazi-Angriff auf Connewitz im Januar 2016 beteiligt. Zudem kam es häufig zu massiven rassistischen Angriffen gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte. Erst im Juni, nach beispielhafter Vorarbeit von Polizei und Lokalpresse, versammelten sich 60 Personen, um eine Wohnung von Geflüchteten zu stürmen.
Da es in Wurzen keine großen Sammelunterkünfte gibt, sind Angriffe auf den Wohnraum von Geflüchteten verbreitet. Und sie sind erfolgreich: Bereits vor zwei Jahren mussten Geflüchtete wegen permanenter Anfeindungen während des Tages der Sachsen sogar aus Wurzen ausquartiert werden. Ein Haus in dem nun eine Neonazi-WG statt Geflüchteten wohnt, passierten wir mit unserer Demonstration. Die wenigen bestehenden antirassistischen und demokratischen Strukturen vor Ort waren ebenfalls mehrfach Attacken ausgesetzt. Im August letzten Jahres wurden beim Netzwerk für Demokratische Kultur die Fensterscheiben eingeworfen. Einige Monate später versuchten Neonazis dort ein Treffen von Refugee-Supporter*innen zu stören und die Aktivist_innen einzuschüchtern. Das sind nur wenige Beispiele des rassistischen Normalzustands in großen Teilen der sächsischen Provinz und auch in Wurzen. Hier zeigt sich die dringende Notwendigkeit antifaschistischer Intervention, die – wie in großen Teilen von Sachsen und Deutschland – bisher leider ausgeblieben ist.

Abwehr, Realitätsverweigerung und Kriminalisierung durch Medien und lokale Bevölkerung

Die mediale Berichterstattung der lokalen und regionalen Presse im Vorfeld der Demonstration, insbesondere durch LVZ und MDR, zeigen deutliche Strategien der Leugnung eines rassistischen Klimas wie auch der Kriminalisierung und Delegitimation antifaschistischer und linksradikaler Kritik und Interventionen. Die immerhin rund sechs Wochen vor der Demonstration beginnende, fast schon ironisch anmutende Berichterstattung war dominiert von den Ängsten der Bevölkerung vor Randale und Zerstörung, einfallenden linken Horden und der Verteidigung gegen eine pauschale Verurteilung als Rassist*innen. Vom Stolperstein bis zur Praktikumsbörse wurde alles als Anzeichen der Unrichtigkeit der Anschuldigungen unseres Aufrufs verwandt, am Ende landeten die verbarrikadierten Scheiben eines von Neonazis betriebenen Sonnenstudios als Beleg für scheinbar verängstigte Bürger im Artikel.
Auch in den sozialen Medien ließ sich der Geisteszustand vieler Wurzener leicht ablesen. So wurde eigens die Facebookgruppe Wurzen gegen Krawalltourismus gegründet, in welcher gegen die antifaschistische Demonstration gehetzt und zu Gegenprotesten aufgerufen wurde. Den Siedepunkt erreichte die bürgerliche Wut durch die Verlegung der Dinosaurierausstellung, die in Wurzen just am Demo-Tag eröffnet werde sollte und aus Angst vor dem »schwarzen Block« an den Stadtrand verlegt wurde. Dies interpretierte ein Teil der Wurzener Bürger*innen als massive Einschränkung ihrer Grundrechte und bereits bestehende Forderungen nach einem Verbot der linken Demonstration wurden erneuert und bekräftigt – auch von kommunalpolitischer Seite. Die Frage, ob derartige Maßnahmen für notwendig erachtet oder vollzogen worden wären, wenn an diesem Tag eine AfD-Kundgebung oder -gida-Demonstration stattgefunden hätte, wurde nicht gestellt.
Ergebnis dieser Panikmache und Kriminalisierung war, dass die mehr 400 Demonstrant*innen am 2. September nicht nur von Polizei in übertriebener Personenstärke, sondern zusätzlich von mindestens fünf Wasserwerfern, Riotcops und schwerbewaffneten SEK-Einheiten in Empfang genommen wurden. Was eine derartige mit Maschinenpistolen bewaffnete Einheit überhaupt bei einer Demonstration zu suchen hat und wie die Szenarien aussahen, unter denen die handeln sollte, bleibt ebenso zu klären, wie der auf Twitter dokumentierte »Odins Rabe«(2), den ein SEK-Beamter auf seiner Uniform angebracht hatte.

Drecksnest at its best

Dass Wurzen »Homezone« von einer starken Neonazistruktur und damit »Feindesland« ist, war im Vorfeld klar und schließlich auch der Grund für eine unversöhnliche Demonstration an diesem Ort. Dennoch war die feindselige Stimmung, die den Demonstrant*innen entgegen schlug unerwartet groß und ist sicherlich auch durch die mediale Stimmungsmache im Vorhinein geschürt worden. Ursprünglich waren zwei Gegenkundgebungen, eine davon von einem einschlägig bekannten Neonazi, angemeldet worden. Diese Anmeldungen wurden am Vortag allerdings zurück gezogen, während unsere Route verlegt und derart eingeschränkt wurde, dass wir dadurch nicht direkt am ehemaligen Streetwear-Laden von Benjamin Brinsa protestieren durften. Neben den unvermeidlichen Wurzener Neonaziaktivisten wurde unsere Demonstration auch von der lokalen Bevölkerung aus den Küchenfenstern beobachtet oder einfach umsäumt. Dabei war das lokal dominante Politische selbstverständlich nicht zu übersehen: Neben den Hitler- und Kühnengrüßen(3) waren es auch zahlreiche Mittelfinger, Beschimpfungen und Bedrohungen, die den Demonstrant*innen entgegen schlugen. Neonazikleidung und Codes wurden gut erkennbar zu Schau gestellt, die »normalen Wurzener*innen« hatten keine Berührungsängste mit bekannteren Nazigesichtern.
Trotz der starken Polizeipräsenz kam es zu Angriffsversuchen von Neonazis, die von den Teilnehmer*innen der antifaschistischen Demonstration souverän abgewehrt wurden. Die oben bereits erwähnten Hitler- und Kühnengrüße, die am Rande der Demo zu sehen waren, konnte oder wollte die Polizei nicht ahnden, denn sie war laut eigener Aussage für die Demonstration und nicht für das umliegende Geschehen zuständig. Die Demonstration konnte lange nicht starten, da die Stangen der mitgebrachten Schilder angeblich »zu kurz« gewesen seien. Einen weiteren längeren Halt musste sie einlegen, als das Abknibbeln von Neonaziaufklebern von einem Linkspartei-Plakat zum Anlass für eine Personalienfeststellung genommen wurde. Während sich einige wenige Beamt*innen erschrocken vom Wurzener Mob zeigten, plauderten andere angeregt mit Anti-Antifas, anstatt sie davon abzuhalten, Demonstrant*innen zu fotografieren oder zu filmen.
Trotzdem gelang es uns, durch eine ruhige, aber entschlossene Demo ein Zeichen zu setzen und durch Redebeiträge und Begleittexte auch inhaltlich zu unterfüttern. Besonders möchten wir hier unseren Respekt jenen Wurzener*innen aussprechen, die sich unserer Demonstration anschlossen. Dass dies unter den oben beschriebenen Bedingungen keine Selbstverständlichkeit ist, finden wir nachvollziehbar und mutig. Wie die Zustände in Wurzen sind, macht unter anderem eine Nachricht an den Fotografen Kohlhuber deutlich, in welchem sich ein Mensch aus Wurzen für die Demo bedankt und eindrücklich schildert, dass er sich in der Stadt nicht sicher fühlt.(4)

Unversöhnliche Intervention als Antwort auf eine unerträgliche Situation

Unversöhnliche Interventionen werden häufig als nicht zielführend kritisiert. Natürlich ist das autoritäre Konzept der »Bestrafung« statt »Aufklärung«, wie es in der Form der unversöhnlichen Intervention angelegt ist, zutiefst streitbar. So musste sich auch unsere Demo immer wieder den Hinweis gefallen lassen, dass dies keine (nachhaltige) politische Aktion sei. Dies ging soweit, dass lokale (sächsische) linksradikale Zusammenhänge eine solidarische Unterstützung verweigerten.
Für uns hingegen zeigte sich in Wurzen wieder einmal, dass unversöhnliche Interventionen sinnvoll und notwendig sind!
Denn unversöhnliche Interventionen haben keinen pädagogischen Anspruch, sie fordern auch keine tiefere Auseinandersetzung mit den Rassist*innen. Sie setzen allein darauf »die Kosten für das Ausleben des Rassismus möglichst hoch zu treiben«(5) und hoffen, damit nicht nur vor Ort, sondern bundesweit abschreckend zu wirken. Im Fall von Wurzen ist es uns gelungen, den völkischen Frieden über die Ortsgrenzen hinaus zu stören. Wir haben die deutschen Zustände am Beispiel von Wurzen in (über-)regionalen Medien sichtbar gemacht.(6)
Regionalpolitiker*innen, örtliche Medien und lokalpatriotische Sächs*innen haben exakt so reagiert, wie wir es vermutet und befürchtet haben. Der rassistische Konsens zwischen Neonazis, Politik, Polizei und schweigender bis zustimmender Mehrheitsgesellschaft wurde am 2. September in Wurzen, in der LVZ, dem MDR und auf Twitter für viele sichtbar. Mit unserer antifaschistischen Demonstration haben wir der einig-völkischen Gemeinschaft vor Ort gezeigt, dass es ein Außen gibt, das ihre Taten beobachtet, verurteilt und auch bereit in solche Orte zu fahren.
Ein Angriff auf Orte wie Wurzen bedeutet nicht nur einen Angriff auf das »ganz normale Dorfleben«, das sich dort entfaltet, sondern insbesondere auf die dazugehörige offensive wie subtile rassistische Vernetzung, die dort stattfindet.
Wir sind uns bewusst, dass die gegenwärtigen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die in Wurzen deutlich sichtbar wurden, nicht zu unseren Gunsten stehen. Uns ist klar: Das ist ein Notwehrprinzip. Es ist ein Setzen auf Autorität gegen Autoritäre, auf Unterdrückung statt auf Aufklärung. Eine bessere Gesellschaft wird dabei nicht entstehen.
Aber wir halten der hässlichen deutschen Fratze den Spiegel vor: Wir stören, wir drohen, wir zeigen, dass wir diese Zustände nicht akzeptieren. Im besten Falle schüchtern wir die Verursacher*innen ein und empowern die Widerständigen. Dass dies auch funktionieren kann, zeigt uns die Zustimmung gerade auch aus der Region in und um Wurzen, die wir auch von vereinzelten bürgerlichen Akteur*innen für #wurzen0209 erhalten haben – während sich gleichzeitig Linksradikale in Kritik und Ablehnung übten.

Wo warst du?

Wirklich viele waren wir nämlich nicht vor Ort. Dass es tatsächlich nur 400-500 Antifaschist*innen zu unserer Demonstration nach Wurzen geschafft haben, macht uns teilweise ratlos und auch wütend. Wir fragen uns (selbst)kritisch, woran das lag. Natürlich werden wir als Bündnis unsere Mobilisierungs- und Pressearbeit überdenken und versuchen, diese beim nächsten Mal anders und vor allem besser zu machen. Aber daran liegt es eben nicht allein. Uns ist flau im Magen, dass uns im Vorfeld ohne eine inhaltliche Auseinandersetzung Unterstützung verweigert wurde und die Diskussion im Nachgang bei dem SEK-Einsatz endet. Versteht uns nicht falsch: Die Anwesenheit des SEK bei einer kleinen, antifaschistischen Demonstration in einem kleinen Drecksnest ist eine Ansage des autoritären Staates und muss skandalisiert werden. Aber wieso bekommt daneben in der linksradikalen Berichterstattung kaum noch Platz, warum wir nach #wurzen0209 gefahren sind? Nämlich, weil es Orte gibt, in denen die völkische Hegemonie so erdrückend ist, dass alle jenseits der Volksgemeinschaft zum Jagdobjekt erklärt wurden. Das sind die Orte, an denen die nächsten rassistischen Angriffe und Pogrome vorbereitet werden. Das sind die Orte, in denen Menschen die nicht der völkischen Norm entsprechen in (Lebens-)Gefahr sind. Wir alle wissen, dass Wurzen kein deutscher Einzelfall ist.
Deshalb fragen wir uns: Wo warst du am 2. September 2017? Und wo wirst du beim nächsten Mal sein?
Bündnis Irgendwo in Deutschland
 

Anmerkungen

(1) Wurzen: Chronik einer rechten Hochburg, de.indymedia.org/node/13328
(2) Anm. d. Red.: Zum Hintergrund siehe facebook.com/hnnsklng/posts/360783097679491
(3) Anm. d. Red.: Der Kühnengruß ist eine Abwandlung des verbotenen Hitlergrußes.
(4) facebook.com/soeren.kohlhuber/posts/1108038372664548
(5) Café Morgenland (1992): Exzesse., cafemorgenland.net/archiv/1992/1992.05.20_Exzesse.htm
(6) Eine ausführlichere Presseschau findet ihr in unserem Twitter-Account, bereits vor der Demonstration gefiel uns dieser Artikel hier: zeit.de/gesellschaft/2017-08/wurzen-rechtsextremismus-rassismus-sachsen-gewalt

Redebeitrag: Der NSU, sächsische Normalität

Redebeitrag von sous la plage auf der Demonstration „das Land – rassistisch der Frieden – völkisch, unser Bruch – unversöhnlich“ am 2. September 2017 in Wurzen. Durchgeführt wurde #Wurzen0209 durch das „Irgendwo in Deutschland„-Bündnis.

Der NSU, sächsische Normalität.

Im letzten Jahr waren wir anlässlich des fünften Jahrestags der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in Zwickau. Dort war das Kerntrio und Teile des Unterstützer*innennetzwerks nicht viele Jahre untergetaucht, wie es immer wieder heißt. Nein, hier konnten sie sich in die sächsische Normalität zurückziehen, die ihnen ein fast normales Leben ermöglichte.
Hier war ihr Zuhause, während sie neun rassistische Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, sowie den Mord an Michèle Kiesewetter verübten. Während sie drei Sprengstoffanschläge in Köln und Nürnberg verübten, bei denen viele Menschen verletzt und nur durch Glück niemand getötet wurde.
Diese Normalität in Sachsen bedeutete für den NSU, sich in einem Umfeld zu bewegen, in dem es normal ist, sich rassistisch zu äußern, normal ist, mit Neonazis offen zu sympathisieren und Hitler-Büsten auf dem Fernseher zu haben, wie ihr Nachbar in Zwickau. Wir gehen davon aus, dass sich der NSU nicht groß vor seinen Nachbar*innen verstellen musste und wir wissen, dass sie in ihrer Nachbarschaft mehr als akzeptiert waren. Die „normale“ rassistische Stimmung, die wir im Gerichtssaal bei Aussagen der Nachbar*innen und in TV-Dokumentationen zu sehen bekamen, muss dem NSU noch den Rücken gestärkt haben. Sie wurden während der rassistisch-völkischen Mobilisierung der 1990er Jahre politisiert und hatten die Erfahrung mitgenommen, dass sie mit ihren Taten ausführen, was die Mehrheit des „Deutschen Volkes“ sich wünsche.
Ohne den gesamtgesellschaftlichen Rassismus in Deutschland und Sachsen wäre die Mordserie des NSU nicht möglich gewesen. Es ergab sich vielmehr ein Zusammenspiel: Die Neonazis des NSU mordeten rassistisch, die Polizei ermittelte rassistisch, die Medien berichteten rassistisch, die rassistische weißdeutsche Mehrheitsbevölkerung inklusive seiner Linken hinterfragte dies nicht und hörte nicht die Angehörigen und die Betroffenen, die immer wieder auf ein mögliches rassistisches Tatmotiv hinwiesen.
In München geht der NSU-Prozess seinem Ende entgegen, doch diese Normalität von der wir sprechen ist ungebrochen. Nicht nur das, wir erleben erneut eine rassistisch-völkische Mobilisierung, ähnlich wie die, während der sich der NSU politisierte. Diese spitzt sich gerade hier in Sachsen zu. Weiterhin können wir beobachten, wie auch offen lebende Neonazis in ihrer Nachbarschaft respektiert und akzeptiert sind. Die Aufregung, die unserer heutigen Demonstration entgegenschlägt, lässt Wurzen in Reaktion auf Neonazis absolut missen. Und diese Alltäglichkeit bringt erneut organisierte rechte Terrorzellen wie die Gruppe Freital hervor. Diese wurde erst in ihrer Gefährlichkeit erkannt, nachdem die Bundesanwaltschaft den Fall an sich zog. In der sächsischen Normalität sollten die Mitglieder der Gruppe wegen vereinzelter Delikte vor einem Schöffengericht angeklagt werden. Die Polizisten, die mit der Gruppe zusammenarbeiteten, sind inzwischen „entlastet“ und wieder im Dienst. Das ist heutige sächsische Normalität und Wurzen ist ein Teil davon.
Die Bedingungen sind nicht aus der Welt, unter denen der NSU entstehen und unentdeckt morden konnte und die Aufklärung des NSU-Komplex immer wieder verhindert wird. Der NSU-Komplex ist kein abgeschlossenes Kapitel und Sachsen verharrt weiter im rassistischen Normalzustand…

Redebeitrag: Rassismus und Deutschland sind Synonyme.

Redebeitrag von das Schweigen durchbrechen! auf der Demonstration „das Land – rassistisch der Frieden – völkisch, unser Bruch – unversöhnlich“ am 2. September 2017 in Wurzen. Durchgeführt wurde #Wurzen0209 durch das „Irgendwo in Deutschland„-Bündnis.

Rassismus und Deutschland sind Synonyme.

Wir befinden uns heute in der sächsischen Kleinstadt Wurzen. Sie soll exemplarisch für die rassistischen Zustände in Sachsen stehen. Nazis können hier, früher wie heute, ohne größere gesellschaftliche Gegenwehr agieren. Die Stadt wird zum sicheren Rückzugsraum für reaktionäre Kräfte. Zum Problem werden dann eben nicht Neonazis, die in Wurzen ihren Lebensmittelpunkt besitzen, sondern diejenigen, die nicht in deren Weltbild passen oder auf das Problem aufmerksam machen.
Dies wird unter anderem durch den öffentlichen und medialen Umgang mit der heutigen Demonstration illustriert, viel plastischer wird es aber noch, wenn der Umgang mit Geflüchteten im Rahmen des „Tags der Sachsen“ 2015 betrachtet wird, der in Wurzen stattfand. Geflüchtete wurden an diesem Tag aus Wurzen gebracht, damit sie die Feierlichkeit nicht stören würden. In beiden Fällen verfällt die Stadt also in vorauseilenden Gehorsam gegenüber der Hetze von Rechts gegen Migrant*innen und Linke.
Und die lokalen Nazis? Sie können sich als legitime Vollstrecker des Volkswillens der schweigenden Mehrheit fühlen.
Ein Blick auf die Dokumentation rechter Übergriffe in Wurzen zeigt, dass es sich dabei nicht um ein neueres Phänomen handelt, sondern dass sich diese Entwicklung seit den 1990er-Jahren hinzieht. Eben jene Zustände in den frühen 90er Jahren nach dem Anschluss der DDR an die BRD waren es, die zum Entstehen einer militanten Naziszene in Gesamtdeutschland und schließlich zur Gründung der Nazi-Terrororganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) führten. Grundlage hierfür ist die Fortexistenz nationalsozialistischer Ideologiefragmente – sowohl in Ost-, als auch in Westdeutschland – sowie die sogenannte „Wiedervereinigung“, die wie ein Fanal auf die rechte Szene wirkte.
Völkischer Rassismus war hierbei schon Anfang der 90er Jahre die zentrale Schnittstelle zwischen organisierten Nazis und deutscher Mehrheitsgesellschaft. Die Unterscheidung zwischen „uns“ und „ihnen“ entlang quasi-natürlicher Kategorien, egal ob offen völkisch aufgrund von Abstammung oder vermeintlich aufgeklärt als kultureller Unterschied benannt, stellt in weiten Teilen der Gesellschaft die Grundlage dar, auf derer „unsere“ Identität durch die bloße Anwesenheit der „Anderen“ bedroht wird. In dieser Vorstellung werden Menschen in „Völker“ oder „Kulturen“ unterteilt, wobei das Verhalten der Individuen wiederum als durch die Eigenschaften dieser Kollektive determiniert angesehen wird. Bereits die Anwesenheit der Angehörigen anderer „Völker“ oder „Kulturen“ droht dadurch, die Differenz zwischen „uns“ und „ihnen“ aufzulösen und wird entsprechend als Bedrohung wahrgenommen. Über weite historische Phasen mehr oder weniger stark geächtet, wurde Rassismus ab Anfang der 1990er Jahren zunehmend enttabuisiert. Erst vor dem Hintergrund, dass rassistische Weltdeutungen zunehmend die öffentliche Meinung dominierten, wird verständlich, warum sich organisierte Nazis nach der deutschen Einigung als konsequenteste Vollstrecker des Volkswillens begreifen konnten.
Nimmt man die Entwicklungen der jüngeren deutschen Geschichte ernst, die in der NSU-Mordserie gipfelten, so folgt daraus zweierlei:
1. Das was Antifa schon immer getan hat: sich rassistischen Bewegungen in den Weg zu stellen, egal, ob sie wissen, dass sie Nazis sind oder nicht.
2. Zu erkennen, dass das Zusammenspiel von Nazis und Mehrheitsgesellschaft Ausdruck dafür ist, dass die nationalsozialistischen Ideologiefragmente in Deutschland immer noch virulent sind. Deshalb muss Deutschland der Offenbarungseid aufgezwungen werden, dass Rassismus und Deutschland Synonyme sind, um endlich mit der deutschen Ideologie zu brechen.