Pressemitteilung: “Rechte Gewalt in Wurzen hält an”

23.03.2018
Die rechte Gewalt in der sächsischen Stadt Wurzen hält weiter an. Seit der Demonstration des bundesweiten Bündnis “Irgendwo in Deutschland” im September 2017 kam es bereits zu fast einem Dutzend weiterer rechter und rassistischer Angriffe in der Stadt (1). Währenddessen versuchen lokale Akteure wie der Oberbürgermeister wichtige Initiativen wie das “Netzwerk für Demokratische Kultur (NDK)” zugunsten des Stadtimages in Wurzen mundtot zu machen.
Dies zeigt sich auch in einer rechte Kundgebung vom „NEUES FORUM für Wurzen“ am Montag, den 26.03.2018, in Wurzen, welche das NDK als „Rufmörder“ betitelt.
Nach der Kundgebung des Bündnis “Irgendwo in Deutschland” unter dem Motto “Solidarität mit allen Betroffenen rassistischer und rechter Gewalt” am 20. Januar 2018 wurden im Nachgang die versuchten Angriffe von Neonazis (2), durch die sächsische Polizei umgedichtet, sowie Anzeigen von Neonazis gegen Antifaschist*innen publik. Während der Kundgebung kam es zu einem versuchten Angriff von Neonazis, die u.a. bewaffnet mit langen Messern, Teleskopschlagstock und Baseballschläger aus einer bekanntermaßen von Neonazis genutzten Immobilie in der Bahnhofstraße stürmten. Zudem wurde von Neonazis spontan eine Gegenkundgebung angemeldet und durchgeführt.
Die Pressesprecherin des Bündnis, Sandra Merth: “Es ist schon eine typisch sächsische Geschichte, wenn jetzt im Nachgang wieder einmal gegen Antifaschist*innen ermittelt wird, die von bewaffneten Neonazis angegriffen und bedroht werden. Wenn die sächsische Polizei von bewaffneten Neonazis nur über Twitter mitbekommen haben will, während sie selber vor Ort ist und dann auch keine Waffen findet, weil sie nicht danach sucht, sagt das schon alles über das Interesse aus, den rechten Terror in Wurzen zu unterbinden.“
Der rechte Terror in Wurzen hält weiter an. Immer wieder werden geflüchtete Menschen in der Stadt bedroht, verfolgt und angegriffen. Das Ziel der Neonazis ist es weiterhin alle Menschen, die nicht in ihr Weltbild passen, aus der Stadt zu vertreiben. An diesem Ziel werden sie von der Stadtverwaltung und der Polizei auch nicht gehindert.
Im Gegenteil: All diejenigen, die diese Zustände in Wurzen benennen und kritisieren, werden öffentlich angegangen. Exemplarisch dafür steht das Netzwerk für Demokratische Kultur, welches in den vergangenen Wochen immer wieder öffentlich für seine Berichte über rassistische Gewalt kritisiert wurde. Wenn die Stadt Wurzen sich dann auch noch mit der Verwaltung in Bautzen trifft, deren Strategie ebenfalls darin besteht ausschließlich gegen Geflüchtete und nicht gegen Neonazis und Rassistinnen vorzugehen, ist das Ziel der Rechten in beiden Regionen erreicht.
“Das Problem in Sachsen ist seit vielen Jahren eine Politik, die sich lieber um das Image der Kommunen kümmert, als um das Wohlergehen der Menschen, die von rassistischer und rechter Gewalt betroffen sind. Wir unterstützen alle Initiativen, die sich nicht den Mund verbieten lassen und rassistische Zustände klar benennen und kritisieren. Wir begrüßen es, wenn sich Geflüchtete notwendigerweise gegen rassistische Angriffe zur Wehr setzen und solidarisieren uns mit ihnen. Offensichtlich können sie in Sachsen nicht auf die Hilfe von Städten wie Wurzen und Bautzen oder Institutionen wie der Polizei hoffen. Dafür sind rassistische Denkmuster in den Strukturen zu stark verbreitet. Wir werden auch weiterhin Wurzen keine Ruhe lassen und uns nicht durch militante Neonazis oder kuriose Ermittlungen der Polizei einschüchtern lassen. Wir werden auch zukünftig in Wurzen die rassistischen Zustände aufzeigen und in den Ort kommen.”, so Sandra Merth abschließend.
Bündnis “Irgendwo in Deutschland”
Mail: irgendwoindeutschland@systemli.org
irgendwoindeutschland.org
twitter.com/irgendwoinde
# bei Twitter: #Wurzen #Wurzen2001 #Wurzen0209
(1) Chroniken dazu finden sich bei der Opferberatung Sachsen (https://raa-sachsen.de/lk-leipzig.html) oder dem Netzwerk für Demokratische Kultur e.V. in Wurzen (http://www.ndk-wurzen.de/Aktuelles/Chronik-GANZ-WEIT-RECHTS/450/)
(2) Eine Schilderung der Ereignisse findet sich hier: blog.zeit.de/stoerungsmelder/2018/01/23…

Redebeitrag: Der NSU, sächsische Normalität

Redebeitrag von sous la plage auf der Demonstration „das Land – rassistisch der Frieden – völkisch, unser Bruch – unversöhnlich“ am 2. September 2017 in Wurzen. Durchgeführt wurde #Wurzen0209 durch das „Irgendwo in Deutschland„-Bündnis.

Der NSU, sächsische Normalität.

Im letzten Jahr waren wir anlässlich des fünften Jahrestags der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in Zwickau. Dort war das Kerntrio und Teile des Unterstützer*innennetzwerks nicht viele Jahre untergetaucht, wie es immer wieder heißt. Nein, hier konnten sie sich in die sächsische Normalität zurückziehen, die ihnen ein fast normales Leben ermöglichte.
Hier war ihr Zuhause, während sie neun rassistische Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, sowie den Mord an Michèle Kiesewetter verübten. Während sie drei Sprengstoffanschläge in Köln und Nürnberg verübten, bei denen viele Menschen verletzt und nur durch Glück niemand getötet wurde.
Diese Normalität in Sachsen bedeutete für den NSU, sich in einem Umfeld zu bewegen, in dem es normal ist, sich rassistisch zu äußern, normal ist, mit Neonazis offen zu sympathisieren und Hitler-Büsten auf dem Fernseher zu haben, wie ihr Nachbar in Zwickau. Wir gehen davon aus, dass sich der NSU nicht groß vor seinen Nachbar*innen verstellen musste und wir wissen, dass sie in ihrer Nachbarschaft mehr als akzeptiert waren. Die „normale“ rassistische Stimmung, die wir im Gerichtssaal bei Aussagen der Nachbar*innen und in TV-Dokumentationen zu sehen bekamen, muss dem NSU noch den Rücken gestärkt haben. Sie wurden während der rassistisch-völkischen Mobilisierung der 1990er Jahre politisiert und hatten die Erfahrung mitgenommen, dass sie mit ihren Taten ausführen, was die Mehrheit des „Deutschen Volkes“ sich wünsche.
Ohne den gesamtgesellschaftlichen Rassismus in Deutschland und Sachsen wäre die Mordserie des NSU nicht möglich gewesen. Es ergab sich vielmehr ein Zusammenspiel: Die Neonazis des NSU mordeten rassistisch, die Polizei ermittelte rassistisch, die Medien berichteten rassistisch, die rassistische weißdeutsche Mehrheitsbevölkerung inklusive seiner Linken hinterfragte dies nicht und hörte nicht die Angehörigen und die Betroffenen, die immer wieder auf ein mögliches rassistisches Tatmotiv hinwiesen.
In München geht der NSU-Prozess seinem Ende entgegen, doch diese Normalität von der wir sprechen ist ungebrochen. Nicht nur das, wir erleben erneut eine rassistisch-völkische Mobilisierung, ähnlich wie die, während der sich der NSU politisierte. Diese spitzt sich gerade hier in Sachsen zu. Weiterhin können wir beobachten, wie auch offen lebende Neonazis in ihrer Nachbarschaft respektiert und akzeptiert sind. Die Aufregung, die unserer heutigen Demonstration entgegenschlägt, lässt Wurzen in Reaktion auf Neonazis absolut missen. Und diese Alltäglichkeit bringt erneut organisierte rechte Terrorzellen wie die Gruppe Freital hervor. Diese wurde erst in ihrer Gefährlichkeit erkannt, nachdem die Bundesanwaltschaft den Fall an sich zog. In der sächsischen Normalität sollten die Mitglieder der Gruppe wegen vereinzelter Delikte vor einem Schöffengericht angeklagt werden. Die Polizisten, die mit der Gruppe zusammenarbeiteten, sind inzwischen „entlastet“ und wieder im Dienst. Das ist heutige sächsische Normalität und Wurzen ist ein Teil davon.
Die Bedingungen sind nicht aus der Welt, unter denen der NSU entstehen und unentdeckt morden konnte und die Aufklärung des NSU-Komplex immer wieder verhindert wird. Der NSU-Komplex ist kein abgeschlossenes Kapitel und Sachsen verharrt weiter im rassistischen Normalzustand…