Liebe Freund*innen der Aufklärung des NSU-Komplexes,
das Urteil im NSU-Prozess wurde gesprochen, der Komplex NSU jedoch ist unaufgelöst. Die versprochene lückenlose Aufklärung ist ausgeblieben. Zahlreiche Fragen blieben unbeantwortet, zahllose sind dazugekommen.
Die Hoffnungen der Betroffenen des NSU-Terrors wurden mit Füßen getreten. Sie erfuhren nicht, warum ihre Angehörigen ermordet und von wem die Täter*innen vor Ort unterstützt wurden. Sie erfuhren nicht, was es mit den Verstrickungen von Polizei oder Verfassungsschutz in den NSUKomplex auf sich hatte.
Sie erfuhren weder eine Anerkennung des institutionellen Rassismus, der sie nach den Taten wie eine „Bombe nach der Bombe“ traf, noch wurde sich für die falschen Verdächtigungen, die sie und ihr Umfeld zu Täter*innen machte, entschuldigt.
Stattdessen plädierte die Bundesanwaltschaft bis zuletzt für die längst widerlegte Theorie des isolierten Trios. Obwohl die Nebenklage und ihre Anwält*innen couragiert Aufklärung gefordert und aktiv zu dieser beigetragen haben, wurde nicht von der Trio-These abgewichen. Die Suche nach Antworten auf die offenen Fragen rund um die Planung und Durchführung der Taten, deren regionale Unterstützung und die Verstrickung staatlicher Organe wurden sabotiert.
Wir sind deshalb heute am Tag der Urteilsverkündung in München, aber auch in anderen Städten wie Berlin, Hamburg, Leipzig und Rostock auf die Straße gegangen, um klarzustellen: es darf und wird keinen Schlussstrich in der Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex geben!
Wir fordern die lückenlose Aufklärung der rassistischen Bombenanschläge in Nürnberg und Köln, in der Gaststätte Sonnenschein, in der Probsteigasse und auf die Keupstraße, genauso wie die lückenlose Aufklärung der neun rassistischen Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat sowie des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter.
Die Bedingungen, die die Mord- und Anschlagserie des NSU möglich gemacht haben, bestehen fort: Sowohl militante Neonazistrukturen, die mit staatlicher Unterstützung rechnen können, als auch der gesellschaftliche Rassismus, der sich durch den gesamten NSU-Komplex zieht.
Rassismus äußerte sich nach der sogenannten Wiedervereinigung in Pogromen und Anschlägen,führte zur faktischen Abschaffung des Asylrechts und trug zur Politisierung des NSU bei. Rassismus führte dazu, dass bei den Ermittlungen der rassistische Tathintergrund ignoriert wurde
und Sonderkommissionen mit so bezeichnenden Namen wie „Bosporus“ und „Halbmond“ ermittelten.Rassismus verortete die Täter*innen in Fallanalysen als dem „deutschen Kulturkreis“ fernstehend und kriminalisierte die Opfer wie die Angehörigen.
Rassismus verleitete die Presse dazu, von „düsteren Parallelwelten“ zu fabulieren und die Mordserie mit dem bekannten Unwort zu betiteln. Rassismus ließ auch uns als antifaschistische und antirassistische Linke die Stimmen der Betroffenen überhören, als diese die Täter benannten und unter dem Motto „Kein 10. Opfer!“ schon fünf Jahre vor der Selbstenttarnung auf die Straße gingen.
Was wurde aus all dem gelernt? Welche Konsequenzen wurden gezogen? Der Verfassungsschutz, der nachweislich Neonazistrukturen aufgebaut und vernetzt hatte, der Verfassungsschutz, dessen Mitarbeiter Andreas Temme nachweislich bei der Ermordung von Halit Yozgat am Tatort gewesen ist und der erwiesenermaßen von einer Gruppe namens NSU wusste, der Verfassungsschutz, der nach der Selbstenttarnung des NSU Akten vernichten ließ und sich gegen jegliche Aufklärung, sei es in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen oder im Prozess vor dem Oberlandesgericht, stellte, dieser Verfassungsschutz steht heute gefestigter denn je, seine Befugnisse wurden erweitert.
Auch der Rassismus in den Institutionen existiert ungehindert fort, sei es durch rassistische Kontrollen in Zügen, an Bahnhöfen oder sonst wo im öffentlichen Raum, oder aber durch den Ausschluss von Rassismus als Tatmotiv. Nach wie vor wird Rassismus häufig als Tatmotiv weder benannt noch überhaupt in Erwägung gezogen. Das lässt sich am Amoklauf von David S. am Münchener OEZ erkennen, am Mordversuch an einem Geflüchteten in Torgau 2017 oder in Berlin- Lichtenberg, als ein Supermarktleiter einen Menschen moldawischer Herkunft im September 2016 totprügelte. Dazu das Schweigen der Berliner Polizei zu den Morden an Luke Holland und Burak Bektaş.
Die Liste der Beispiele könnte noch um zahlreiche weitere ergänzt werden. Selbiges muss für den gesellschaftlichen Rassismus konstatiert werden, der die Grundlage für den eliminatorischen Rassismus bildete und bildet. Der NSU war nicht die erste Neonazi-Terrororganisation und auch nicht die letzte. Das zeigen Prozesse gegen rechtsradikale Organisationen wie die „Oldschool Society“ oder die „Gruppe Freital“, aber auch die immer häufiger werdenden Meldungen über Waffenfunde in der Neonaziszene.
Die Zahl rassistischer Anschläge und Übergriffe ist in den letzten Jahren rasant angestiegen. Die Akteur*innen, die sich an Kundgebungen und Angriffen beteiligen, gehen weit über die Neonaziszene hinaus. Dazu kommen zahllose Personen, die offen oder insgeheim diese Taten gutheißen, und der Erfolg von Bewegungen und Parteien wie Pegida und AfD.Während Medien und Politiker*innen bis in die Linkspartei hinein die Grenze des Sagbaren durch immer neue rassistische Ausfälle weiter verschieben und vermeintlich „linke“ Politiker*innen die Nation als positiven Referenzrahmen für sich entdecken, agieren die politischen Entscheidungsträger*innen ähnlich wie in den 1990ern:
Nationalistische Rhetorik, Abbau des Asylrechts, Verschärfung des repressiven Lagersystems, Abschiebungen. Diese Zustände schaffen damals wie heute ein Klima, in dem sich Neonazis als „Vollstrecker des Volkswillens“ zu Gewalt bis hin zu Morden legitimiert sehen. Diese Zustände waren es, in denen der NSU sich sozialisiert hat. Diesen Zuständen gilt es deshalb ebenso unversöhnlich entgegenzutreten wie den Neonazis, die sie auf die Spitze treiben.
Rassistische Gewalt gegen Geflüchtete und Migrant*innen darf nicht unbeantwortet bleiben, der Rassismus in Behörden und Gesellschaft nicht unkommentiert.
Wir fordern unmissverständlich: Kein Schlussstrich – den NSU-Komplex aufklären und auflösen!
Wir fordern die Berücksichtigung der Perspektiven der Angehörigen und Überlebenden bei der Aufklärung und beim Gedenken an die Opfer, die Umbenennung der Holländischen Straße in Kassel in Halit-Straße sowie die Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission.
Wir fordern die Auflösung der Verfassungsschutzbehörden und die Abschaffung des V-Personen-Systems!
Unsere Solidarität gilt den Opfern der rassistischen Mordserie, den Überlebenden der Anschläge und allen Menschen, die von rechtem Terror und Rassismus bedroht und betroffen sind.