Torgau – Stadt des verschwiegenen rassistischem Mordes
Einwohner*innenzahl: 20.000 (stark alternd & sinkend)
Nur durch eine einstündige Reise mit der S-Bahn von Leipzig entfernt liegt eine kleine Stadt mit pittoreskem Stadtkern. Die Mieten in den pastellfarbenen Häusern sind selbst in der Innenstadt günstig, Fluss und Schloss sorgen für malerische Aussichten und dank des geplanten Glasfaserausbaus ist der Rest der Welt bald nicht mehr ganz so weit entfernt, wie noch zuvor.
Im Sommer kommen die Leute von Außerhalb, die wandern oder radeln die Elbe entlang, bleiben auch mal für mehr als eine Nacht und sorgen für ein bisschen Abwechslung. Denn in der kleinen Stadt kann nicht studiert werden, auch Berufsschulen oder größere Ausbildungsbetriebe gibt es nicht. Dementsprechend sind 67% der Einwohner*innen über 65 Jahre alt, weitere 28% unter 20. Die jungen Leute, insbesondere junge Frauen gehen also weg, hinaus in die Welt. Wer bleiben will, entscheidet sich regelrecht gegen Veränderung. Wenn nicht gerade der Tag der Sachsen gefeiert wird, vertreiben sich viele junge Leute hier die Zeit mithilfe von Crystal Meth.
Als herrschendes Erklärmuster dafür, das im Leben und insbesondere in Torgau vieles so scheiße ist, hat sich längst der Rassismus etabliert. Es gibt kaum eine Zivilgesellschaft, die widerspricht, wenn soziale Probleme auf die mit dem K-Wort oder Z-Wort bezeichneten Migrant*innen im Vorort Nordwest abgeladen werden. Im Gegenteil: Auch in der Lokalpolitik werden die von einer Personalfirma für die Ausbeutung in einer Fleischfabrik aus Osteuropa herangekarrten Menschen als dankbarer Sündenbock genutzt. Und so hat sich in der Stadt hat sich – ob gesteuert oder von selbst – auch über den rassistischen Mordversuch die Erzählung eingebrannt, dass auf dem Marktplatz ein „Ausländer“ herumschoss, na klar, „wegen der Drogen“.
Waffen und Drogen, beides war an dem Abend im Sommer 2017 in der Hand der Torgauer. Der Prozess ist in diesem Jahr mit einem Urteil gegen Kenneth E. geendet, der schuldig gesprochen wurde, am Tatabend 2x aus kürzester Entfernung in die Brust des die Stadt besuchenden Geflüchteten abgefeuert zu haben. Dabei war seit Tagen auf Crystal unterwegs, trotz vieler Anzeichen für eine rechte Gesinnung (u.a. Hitlerbildchen in seiner Zelle) konnte vom Gericht kein rassistisches Motiv erkannt werden. Dabei wies es in seiner Urteilsverkündung darauf hin, dass ihm die rassistische Sprache und Naziszenekleidung vieler Torgauer Zeug*innen durchaus aufgefallen waren. Für Beobachter*innen wurde außerdem klar, dass in der Tatnacht neben dem Täter und seinem Freund, dem lokalen Crystal-Dealer Anton G., auch noch weitere mit Messern, Schlagstöcken und Schreckschusswaffen bewaffnete Torgauer auf der Suche nach den Geflüchteten waren. Über eine etwaige Verbindung oder Informationsaustausch der Suchbemühungen konnte nichts herausgefunden werden – das hätte bei den verhaltenen Ermittlungsversuchen der lokalen Polizei auch verwundert. Diese behandelte klassisch das Opfer als Täter und ließ die zweite bewaffnete Nazigruppe wegen guter Kooperation ohne Schmauchspuranalyse und Folgehausdurchsuchungen von dannen ziehen. Sie hatten bereits zugegeben „in die Luft“ geschossen zu haben, als „Ausländer“ auf sie zuliefen und zudem direkt ihre Schreckschusswaffe abgegeben. Ihre Aussagen machten sie in rechter Szenekleidung und recht furchtlos mit unverhohlener Sprache.
In der Stadt kursiert auch nach einer weiteren Reportage weiterhin die Version von dem Geflüchteten als Täter. Das ist eine bewusste Entscheidung für eine Realität, die aber auch in den Lokalmedien kaum in Frage gestellt wird. Die Torgauer Zeitung berichtete kaum von Tat und Prozess und auch in den Facebookgruppen der Stadt werden Themen wie weitere rassistische Attacken (wieder ein Täter auf Crystal) einfach als Hetze abgewatscht.
Von Torgau werden wir also noch mehr hören, wenn sich Leute finden, die aus dem Innenleben der nach Außen recht abgeriegelten Stadt erzählen wollen. Unterstützt also die letzten Leute vor Ort und skandalisiert mit uns den rassistischen Konsens , der unsichtbar, aber zäh wie Kaugummi zwischen Kopfsteinpflaster, historischen Mauern und Schloss Hartenfels wabert. Auf das auch Menschen, die in Torgau als fremd gelten, sich irgendwann sicher durch die malerischen Straßen bewegen können.
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Lesetipps zu Torgau
FAZ: Lange Reportage zu den Verhältnissen in Torgau (am Computer ohne Paywall)
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