Am 6.11. haben wir auf der Demonstration „In Gedenken an die Opfer des NSU-Komplex. Rassismus tötet. Konsequenzen jetzt“ vom Vortag in Zwickau erzählt.
Redebeitrag „Irgendwo in Deutschland“
Es folgt der Redebeitrag des Bündnisses „Irgendwo in Deutschland“. Wir haben gestern eine Demonstration anlässlich des fünften Jahrestages der Selbstenttarnung des NSU in Zwickau veranstaltet. Mit uns waren 600 Menschen bei Dauerregen auf der Straße, um gegen Nazi-Terror und rassistischen Normalzustand zu protestieren.
Die Reaktionen der Anwohner*innen waren unterschiedlich: von Pöbeleien aggressiver Nazis und mehreren Hitlergrüßen aus Fenstern entlang der Route hin zu Interesse, Zustimmung und mehreren Personen, die sich unserer Demonstration angeschlossen haben.
Mit unserer Demonstration wollten wir in Zwickau, dem Ort von dem aus der Großteil der Morde des NSU begangen werden konnte, auf die arbeitsteilige Verknüpfung von schweigender bis zustimmender Bevölkerung und den mörderischen Aktionen der Neonazis hinweisen. Wir haben in Frage gestellt, wie tief in den „Untergrund“ Nazi-Terrorist*innen irgendwo in Deutschland eigentlich gehen müssen. Das gilt insbesondere für Zwickau als spezifisch sächsischer Ausprägung einer bundesweiten Realität:
Ein breites Netzwerk ermöglichte dem NSU dort einen komfortablen Rückzugsort – trotz eines Lebens im „Untergrund“. Frühere Nachbar*innen berichten von Beate Zschäpe als netter Frau und „Katzenmama“. Die Hitler-Bilder, die im als Nachbarschaftstreff genutzten Party-Keller eines Nachbarn gefunden wurden, zeugen von ideologischer Zustimmung und Verbundenheit in der Zwickauer Frühlingsstraße. Neonazis in Zwickau und Chemnitz betrieben neben Kleidungsgeschäften auch Baufirmen und Security-Unternehmen. Sie errichteten seit den 1990er Jahren eine funktionierende Infrastruktur, die sowohl Geld einbrachte, als auch die Grundbedingungen für das Leben des NSU im „Untergrund“ schuf. Ralf Marschner, Inhaber einer Baufirma, mehrerer Shops für Nazibekleidung und eines rechten Labels, war vermutlich zeitweise Arbeitgeber des NSU-Trio. Ein solches Miteinander von Neonazis und „normalen“ Bürger*innen zeichnet ein gesellschaftliches Klima, das fortbesteht.
In Sachsen und bundesweit sind Übergriffe und Anschläge auf Geflüchtete und alle anderen, die als Fremde oder Feinde markiert werden, Alltag. Das BKA zählt 2016 bereits über 800 Angriffe auf Geflüchtetetenunterkünfte. In Heidenau kommt es 2015 sogar zu pogromartigen Ausschreitungen, in Bautzen finden im September 2016 Menschenjagden auf Geflüchtete statt. Auch in Zwickau protestieren mehrfach mehrere tausend Demonstrant*innen gegen die Einrichtung von Geflüchtetenunterkünften. Im Mai kommt es zu einem Brandanschlag auf die Unterkunft an der Kopernikusstraße, Ende 2015 wurden Molotow-Cocktails gegen die Geflüchtetenenunterkunft im benachbarten Crimmitschau geschleudert. Weitere Angriffe in den letzten Jahren richten sich u.a. gegen einen Döner-Imbiss und eine Obdachlosenunterkunft. Das Straßenbild prägen zahlreiche Sprühereien mit NS- und rassistischem Inhalt. Es kommt immer wieder zu körperlichen Übergriffe auf Migrant_innen, Geflüchtete und Linke bei denen Umstehende nicht eingreifen, oder nicht ihrer Verantwortung gerecht werden. Ohne nennenswerten Widerspruch durch die Mehrheitsbevölkerung formiert sich aktuell eine völkische Bewegung.
Dass Zwickau für die Neonaziszene noch immer eine ganze Erlebniswelt bietet, mit Bekleidungsgeschäften, rechten Kampfsportevents, Neonazikonzerten, des ungehemmten Auslebens rechten Gedankenguts bei lokalen Fußballvereinen und Arbeitsplätzen bei den national gesinnten Kamerad*innen – darüber wird in Zwickau nicht gerne gesprochen. Auch die Selbstenttarnung des NSU hat nicht zu einem Umdenken geführt. Eine Gedenktafel für die Opfer ist politisch unerwünscht und ein Schulprojekt zum Thema wurde zunächst vom Kulturausschuss der Stadt sabotiert. Nun geht die AfD gegen das Projekt vor. Dieses Desinteresse an Aufklärung und Erinnerung verhöhnt die Opfer des NSU und rechter Gewalt in Deutschland.
“Hier gab es keine Opfer. Weshalb sollte es so eine Kundgebung dann bei uns geben?” gab die Bürgermeisterin Findeiß am ersten Jahrestag nach der Selbstenttarnung des NSU zu Protokoll und setzte sich dafür ein, dass nicht mehr von der „Zwickauer Terrorzelle“ geschrieben würde. Schließlich könne die Stadt nichts dafür, dass sich das rechte Terrortrio ausgerechnet in Zwickau niedergelassen habe.
Unsere Demonstration stand unter dem Titel: „NSU in Zwickau: Kein Gras drüber wachsen lassen!“, bezogen auf die Grünfläche, die auf der Ruine des letzten Wohnortes von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe eingerichtet wurde. Wir wollen also die Zwickauer Zustände in die Öffentlichkeit zu zerren und gegen den rassistischen Alltag in Zwickau, Sachsen und deutschlandweit auf die Straße gehen.
- Wir erinnerten an die Opfer der Mord- und Anschlagsserie des NSU und drücken unsere Solidarität mit ihnen und ihren Angehörigen aus.
- Wir wollten auf die Neonazistrukturen und ihre nachbarschaftliche Komfortzone hinweisen und diese zurückdrängen.
- Wir fordern nach wie vor die Abschaffung aller Inlandsgeheimdienste, die unter dem Label „Verfassungsschutz“ operieren und verdeckte Aufbauarbeit für neonazistische Gruppierungen betreiben.
- Wir fordern insbesondere eine Auseinandersetzung mit und Aufarbeitung der rassistischen Morde durch einen internationalen Untersuchungsausschuss und unter Einbeziehung der Angehörigen in die Aufklärungsarbeit.
Solidarische Grüße heute zu euch nach Berlin.
Nichts und Niemand wird vergessen!